Utopia, armarium codicum bibliophilorum, Cod. 109
Creative Commons License

Leuchtendes Mittelalter, Neue Folge IV, 32 illuminierte Handschriften aus Frankreich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, beschrieben von Eberhard König, Ina Nettekoven und Heribert Tenschert, Ramsen Antiquariat Heribert Tenschert 2007, S. 359-366.

Handschriftentitel: Stundenbuch, Horae B.M.V. für den Gebrauch von Angers.
Entstehungsort: Angers
Entstehungszeit: um 1429/30
Katalognummer: 29
Beschreibstoff: Pergament
Umfang: 186 Blatt Pergament, dazu zwei Vorsätze Pergament.
Format: Quart (181 x 135 mm)
Lagenstruktur: Gebunden vorwiegend in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die Kalenderlage 1 (12) sowie Lage 6 (8-2, ohne Textverlust - offenbar im Zusammenhang mit dem erst nachträglichen Entschluß, an dieser Stelle die Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist einzuschalten), die Endlage des Marien-Offiziums 12 (6) sowie die um zwei Einzelblätter ergänzte Endlage von Bußpsalmen und Litanei 15 (8+2).
Zustand: Komplett und vorzüglich erhalten.
Seiteneinrichtung: Zu 12, im Kalender zu 17 Zeilen. Textspiegel 93 x 58 mm.
Schrift und Hände: Sorgfältige Textura in kräftig schwarzer Tinte, Rubriken in leuchtendem Zinnober; gelb lavierte Versalien.
Buchschmuck: 13 grosse Miniaturen über drei Zeilen Text mit dreizeiliger Dornblatt-Initiale, breiter Dornblattzierleiste und Vollbordüren aus Dornblatt, Blumen und Akanthus; eine Seite mit dreizeiliger Initiale der gleichen Art sowie Doppelstab und Bordüre von links. Eine Lage (16) mit Doppelstab und Vollbordüre. Die übrigen Texte ohne Randschmuck mit Blattgold-Initialen auf weinroten und blauen Flächen, einzeilig für Psalmenverse, zweizeilig für Psalmenanfänge und ähnliche Texte, viele Zeilenfüllstreifen der gleichen Art. Versalien gelb laviert.
  • Schriftdekor

    Blattgoldbuchstaben auf weinroten und blauen Flächen; Zeilenfüllstreifen entsprechend. Oft springt die Farbe konturlos um. Lebendige Tintenlinien zur Konturierung, oft in den Randstreifen vorschnellend. In der gleichen Art gebildet ist das eine bildlose Incipit mit dreizeiliger Dornblatt-Initiale (fol. 92); hier entspringt der Randschnuck einem Doppelstab links.

    Die Randflächen werden mit Blattwerk verziert. Eine Zierleiste aus Doppelstab zum Falz und abwechselnd blauen und roten Flächen umgibt den Textspiegel von unten, eng an dessen Grenzen orientiert; aus ihr sprießen die meisten der gemalten Elemente aus Blumen und Akanthus ebenso wie die Tintenlinien der Dornblattranken

    Die erste Lage des Toten-Offiziums, fol. 123-130, mit senkrechten Doppelstäben zu beiden Seiten des Textspiegels, aus denen Blumen und Akanthus entspringen, belegt einen Planwechsel, der jedoch nicht zur konsequenten Durchgestaltung des ganzen Buchs geführt hat. Im Textdekor wäre damit ein ähnlicher Eindruck erreicht worden wie bei den Stundenbüchern der Marguerite d'Orléans, der Marie de Rieux oder auch Rothschild 2534 der Pariser Nationalbibliothek.

  • Die Bildfolge

    fol. 13: Johannes der Evangelist in seiner Schreibstube oder in einem Hof.

    fol. 21: Der Bilderzyklus zum Marien-Offizium mit den eingeschalteten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist entspricht der in Frankreich üblichen Norm: Marienverkündigung (fol. 21), Heimsuchung (fol. 36v), Kreuzigung (fol. 51), Ausgießung des Heiligen Geistes (fol. 52v), Anbetung des Kindes (fol. 54), Hirtenverkündigung (fol. 63), Anbetung der Könige (fol. 68v), Darbringung im Tempel (fol. 74), Flucht nach Ägypten (fol. 79v), Marienkrönung (fol. 84).

    fol. 97: David im Gebet.

    fol. 123: Totendienst in der Kirche.

  • Zum Stil

    Begonnen wurde das Stundenbuch von einem Maler aus dem Umfeld jenes Meisters, der zunächst gemensam mit den Brüdern Limburg Initialschmuck in den Très Riches Heures des Herzogs von Berry geschaffen hat und dann die Ausmalung eines zweibändigen Breviers in London für Johann Ohnefurcht leitete und nach diesem Auftrag benannt wird. In den Bildvorlagen orientiert sich der Maler einerseits an den Limburgs und andererseits an einer Ortstradition in Angers; denn zahlreiche Miniaturen stimmen im Wesentlichen mit Stundenbuchbildern für den Gebrauch von Angers überein. Aus unbekannten Gründen blieben die Gesichter in der Hirtenverkündigung (fol. 63) unvollendet; vielleicht waren auch andere Köpfe nur summarisch angelegt.

    Von Bourges, wo er 1428 ein Livre des secrets d'histoire naturelle (fr. 1376-78 der Pariser Nationalbibliothek) illustriert und noch Mitte des Jahres 1429 das Frontispiz einer Chronique de Saint-Denis (fr. 2605 ebenda) gemalt hatte, dürfte der Orléans-Meister über Angers nach Westen gereist sein, um - meiner Überzeugung nach - in Rennes sein namengebendes Hauptwerk für Marguerite d'Orléans zu schaffen.

    Deshalb dürfte das Stundenbuch, das in den 1440er Jahren Guillaume Provost und Jeanne Ameere für ihre Taufeinträge gedient hat, in Angers geschaffen worden sein. Der Beginn der Arbeit liegt in den 20er Jahren; die brillanten Köpfe wurden recht genau 1429/30 von einem der eindrucksvollsten Maler der Zeit in die schon vorbereiteten Miniaturen eingetragen.

Einband: Modern gebunden in roten Goldbrokat des 17. Jahrhunderts über Holzdeckeln, mit Metallschließe.
Hauptsprache: Lateinisch
Inhaltsangabe:
Stundenbuch, Horae B.M.V. für den Gebrauch von Angers.
Lateinische Handschrift in Schwarz und Rot auf Pergament.
Das Stundenbuch ist in den Offizien ebenso wie in Kalender und Heiligenlitanei auf den Gebrauch von Angers eingerichtet.
  • fol. 1: Kalender in französischer Sprache; fasr jeder Tag besetzt; von eigenartiger Orthographie eudouart (16.3.), aytrope (30.4.), mauxime (29.5.), mauxeime (15.12.), dialektal gefärbt vegile. Mit Hauptheiligen von Angers in Rot: Mauritiusfest 28., nicht 22.9.; Renatus 12.11. Albinus 1.3.; Maurilius und Magnobodus fehlen.
  • fol. 13 Perikopen; Johannes (fol. 13), Lukas (fol. 15), Matthäus (fol. 17), Markus (fol. 19).
  • fol. 21 Marien-Offizium für den Gebrauch von Angers mit eingeschalteten Horen von Heilig Kreuz und Heilig Geist: Matutin (fol. 21), Laudes (fol. 36v), Matutin des Heiligen Kreuzes (fol. 51), des Heiligen Geistes (fol. 52v), Marien-Prim (fol. 54), Marien-Terz (fol. 63), Marien-Sext (fol. 68v), Marien-Non (fol. 74), Marien-Vesper (fol. 79v), Marien-Komplet (fol. 84). Dei Einschaltung der Horen war offenbar zunächst nicht geplant; deshalb sind die Lagen 6 und 15 unregelmäßig; offenbar sollten beide Texte zunächst nach Pariser Tradition zwischen Bußpsalmen und Toten-Offizium stehen, wurden dann aber, während die Schreibarbeit noch im Gang war, nach der eher westfranzösischen Sitte, die sich erst später auch in der Hauptstadt durchsetzen sollte, in die Stundenfolge zu Maria integriert.
  • fol. 92 Mariengebet Obsecro te, für einen Mann redigiert.
  • fol. 97 Bußpsalmen und Litanei, die Heiligenauswahl für Angers: Mauritius unter den Märtyrern Unter den Bekennern sanson, maurili, renate, albini, lupe, magnobode, guillerme, yvo.
  • fol. 123 Toten-Offizium für den Gebrauch von Angers.
  • fol. 172 Heiligen-Suffragien: Johannes der Täufer (fol. 172v), Johannes der Evangelist (fol. 173), Andreas (fol. 173v), Sebastian (fol. 174v), Laurentius (fol. 176v), Julian (fol. 177), Martin (fol. 177v), Magdalena (fol. 178v), Katharina (fol. 179), Margarete (fol. 180), Apollonia (fol. 180v), Anna (fol. 181v), Agatha (fol. 183), Cäcilia (fol. 184), Frieden (fol. 184v), Alle Heiligen (fol. 185). Textende 185v[186r].
Entstehung der Handschrift: Angers, um 1429/30: Nachfolger des Meisters des Breviers für Jean sans Peur; mehrere Marien-Gesichter vom Meister der Marguerite d'Orléans.
Provenienz der Handschrift:
  • Einem ungewohnt frühen livre de raison mit Taufeinträgen vom 27. April 1442 bis 1448 auf fol. 186v zufolge, die im 18. Jahrhundert auf fol. 187 fehlerhaft transkribiert wurden, war die Handschrift im Besitz von Guillaume Provost und dessen Ehefrau Jeanne Ameere.
    Die Einträge, wie sie sich unter ultraviolettem Licht lesen lassen, lauten:
    • 1) Le sabmady xxvii jour d'avril iiijcxlij entre deux et iii heures apres menuit fu ne f[rancoys] fils de guill[aume] p[ro]voust et de Jehanne ameere furent parrains de la royne dame francoyse ['] de francoys pour le nom.
    • 2) Le Jeudy xxj Jour de novembre iiijcxliij entre V et VI heures apres menuit fu nee ysabeau fille des dess[us dits], et fut marraine la royne de Sicille et aussi ma demoiselle de monte Jehan, et parrain mons[ieur] de beauvau.
    • 3) Le Vendredy VIIᵉ jour de may iiijcxlv entre xi et douze davant midi fut ne Jehan provoust enffant des dessus [dits] et furent parrains Jean Guillemet et Jehan dudoibt (?) et phil[ippe] femme de monsieur nicole muret.
    • 4) Le xxvi jour de Juillet iiijcxlvi fut nee ysabeau fille des dessus [dits] entre quatre et cinq heures apres midi et fut parrain Jehan trepigni juge de la prevoste d'ang[er]s, et marraine anne femme du lieuten[ant] d'angers et ysabeau de pierre chabot. De laquelle lad[ite] fille pour le nom et fut lad[ite] jour jour [sic] de mardy (lieutenant d'angers = Pierre de la Poissonière, siehe Lecoy de la Marche, S. 443).
    • 5) Le iij Jour de fevrier iiijcxlviij fu ne Jousselin pr[o]voust fils des dessus [dits] entre onze et douze heures D'avant midj au jour de Sabmedy et furent parrains mons[ieur] Jousselin rufier (?) et monsieur Jacques chevalier et marraine lad[ite] philippe.
    Als Paten genannt sind die „Königin von Sizilien“ Isabella von Lothringen, Ehefrau des Guten Königs René, sowie Mitglieder der Familien Montjean und Beauvau aus dem adeligen Umfeld des Hofs von Angers. Hinzu kommen Persönlichkeiten aus Justiz und Kommando in Angers sowie herausragende Bürger der Stadt wie die Ehefrau des Kommandanten (lieutenant) von Angers, Pierre de la Poissonnière, der Richter Jean Trepigny, Bewahrer des königlichen Rechtssiegels, sowie Philippe, Ehefrau des Nicole Muret aus der herzoglichen und königlichen Finanzverwaltung. Zu den offiziellen Ratgebern des Königs gehörte Guillaume Provost spätestens seit 1453 als maître des requêtes.
  • Im frühen 18. Jahrhundert in der Bibliothek des Louis-Gaspard Joseph de Clermont-Gallerande, „Ancien Chef Descradon Au Regiment de Cavallerie d'Orleans“ (im Dienst des Regenten Philippe II duc d'Orléans) laut Exlibris vorn.
  • Ein ungewöhnliches Beispiel für das Zusammentreffen verschiedener Maler und gegensätzlicher künstlerischer Temperamente und Qualitäten: Ein Stundenbich für den Gebrauch von Angers, das vor Augen führt, wie sehr die Buchmalerei in jener Stadt, ihrer Diözese und ihrem Herzogtum noch brennendes Desiderat der Forschung ist. Einfache Miniaturen, angelegt von einem Maler, der im Umfeld gröSerer Kunst aufgewachsen ist und wohl am meisten vom Meister Johann Ohnefurchts gelernt hat, sind von einem der kraftvollsten und bemerkenswertesten Künstlern der Zeit um 1430 mit Gesichtern für die Hauptfiguren ausgestattet worden. Das geschah in einem Codex, über dessen frühe Geschichte noch erstaunlich viel zu ermitteln ist, weil ein in ihm enthaltenes, besonders frühes Livre de Raison Aufschluß über die Familie der Besteller oder Erstbesitzer, die Provosts gibt.
Bibliographie:
  • Zu dieser Handschrift ist eine Monographie erschienen:
    E. König, Das Provost-Stundenbuch. Der Meister der Marguerite d'Orléans und die Buchmalerei in Angers (Illuminationen, Studien und Monographien, hrsg. von Heribert Tenschert, IV), Ramsen und Rotthalmünster 2002, 140 Seiten im Quartformat, mit 23 farbigen und 47 schwarz-weissen Abbildungen.
  • Vgl. auch:
    E. König, Les Heures de Marguerite d'Orléans, übersetzt von François Boespflug, Reproduction intégrale du calendrier et des images du manuscrit latin 1156B de la Bibliothèque Nationale, Paris 1991.