Im Folchart-Psalter sind die künstlerischen Erfahrungen der Gotzbert (816-837)- u. Grimaldzeit (841-872) enthalten u. sowohl im Schrift- als auch im Initialenstil in eine neue künstlerische Einheit eingebracht, die durch die metallischen Farben Gold u. Silber u. durch die in starkem Auftrag leuchtenden Farben Purpur, Blau u. Grün den Status von Prachthandschriften erreicht. Dabei wird auf Minium, Gelb u. Weiß nicht verzichtet. Der Farbauftrag erzielt in verschiedener Kombination unterschiedliche Effekte, die manchmal mehr zum Gold-, dann eher zum Silberton wechseln. Die bei
Ochsenbein/von Scarpatetti (S. 233-235) u.
Eggenberger (1989) angesprochenen Probleme der Unterlegung bzw. späteren Ummalung von Initialen mit Purpurfeldern schränkt die Konzeption des Künstlers, in der, wie die Zierseiten zeigen, Purpurgründe von Anfang an geplant waren, nicht ein.
Der erste «Seitentitel» auf p. 26-27 nennt Hartmut (Dekan 849-872; Abt 872-883) als Auftraggeber des Werkes u. Folchart als dessen Betreuer. Ich interpretiere das «Folchardus studuit rite patrare librum» mit «Folchart war bemüht, das Buch nach den Regeln (rite) zu schreiben u. zu illuminieren» (vgl. Thiel). Die Persönlichkeit Folcharts erhellt aus vielen Urkunden, in denen er auch als Schreiber zeichnet (zuletzt zusammengestellt von Schaab). In W 442 (? 849/55 VI 2) u. W 463 (858 V 14) zeichnet er als Subdiakon, in W 472 (860 V 1), W 480 (861 IV 17), W 513 (865 XI 20) u. W 514 (865 XI 20) als Diakon, W 544 (869 I 26) schreibt Thiotker «in vice Folchardi praepositi» (Außenpropst für den Süden), in W 622 (? 882/3 VI), W 634 (? 883 III 2) u. W 715 (898/9 VII 2) wird er Dekan genannt (vgl. Subsidia Sangallensia I, S. 403-443; Schaab, S. 80). Er starb wahrscheinlich am 9. Januar im Jahr 903. Analog zu Wolfcoz ([Nr. 33]) wird die Künstlerpersönlichkeit Folcharts nicht über seine Urkundenschrift, sondern über dieses Psalterium, in dem er einen hohen Stil schreibt, charakterisierbar. Ohne Zweifel ist im zeitlich vorstellbaren Ablauf der Arbeit an diesem Werk eine künstlerische Wandelbarkeit festzustellen, die aber die Stileinheit des Ganzen nicht sprengt. Vielleicht kann man hier zwischen einer klassischen u. einer barocken Ausdrucksweise unterscheiden, von denen erstere mehr Linearität, letztere mehr Vegetabilität besitzt.
Folchart folgte der St. Galler Tradition ([Nr. 32]-[34]), wenn er mit der Dreier- u. Dekadenteilung seinen Psalter ohne andere Kennzeichnung strukturierte und ihn so gewissermaßen als Grundbuch für die Liturgie einrichtete, das zugleich den Status einer Prachthandschrift erhielt. Er verzichtete auf die Origo prophetiae David in den Vorreden, gab ihr aber in Form von Lünettenbildern in den Litaneibogen Gestalt, die wie in den Evangeliaren die Kanontafeln am Anfang, nicht etwa am Schluss des Werkes (vgl. [Nr. 32]-[34]) stehen. Einen Terminus post quem der Entstehung bietet die Anrufung des hl. Otmar p. 10 in der Litanei. Otmar wurde 864 bzw. 867 kanonisiert (Duft, Abtei St. Gallen II, S. 110, passim). Dass Hartmut im Distichon Praeceptor (= Lehrer) genannt wird, mag viele Gründe haben, vielleicht ist die Wortwahl (anstelle von Abbas) wegen der Metrik gefallen. Folchart bietet in den Litaneibogen und Initialen ein großartiges Formenrepertoire, das er aus der «Sprache» der St. Galler Vorfahren schöpft u. im Vegetabilen bereichert. In seiner «barocken» Phase schafft er, dadurch dass er dem einen der beiden Bänder vegetabile Qualität gibt, ein Gleichgewicht zwischen Bänderung u. Vegetabilität im Buchstabenkörper. Einmalig in diesem Werk ist das Hinterlegen u. Umrahmen der Dekadenpsalmen mit Purpurfeldern. Wie die ebensolchen Initialen zu Ps 6-16 zeigen, faszinierte dieses Prinzip das Skriptorium in den Jahren 870-880. Eine Übermalung gewisser Partien in den 890ger Jahren (vgl.
Ochsenbein/von Scarpatetti) schließe ich aus.
Folchart hat aber seinen Psalter, aus welchen Gründen auch immer, nicht vollendet (vgl. dagegen noch
Ochsenbein/von Scarpatetti, S. 218: «Der Text ist von einer einzigen Hand geschrieben»). P. 332b beginnt mit Ps 149 ein zweiter Schreiber, der bis p. 335 schreibt. Er könnte ein Schüler Folcharts sein. Kennzeichnend ist für ihn, dass er den Buchstaben i oft mitten im Satz groß (I) schreibt (p. 333 Ps 149,4 Quia bene placitum, est dno. In populo suo; p. 334 Ps 150,1ff. Infirmamento, Intympano, Inchordis, In cymbalis, p. 335 Ps 151,3 et unxit me In misericordia). Wenn die Initiale P(usillus) p. 335 Ps 151 von der Hand dieses Schreibers ist, zeigt sich hier ein Folchart ebenbürtiges Talent. Die Seiten 337-362 stammen von einer dritten, ebenso Folchart nahe stehenden Hand. Die Initiale C(onfitebor) p. 337 mit den in Purpurgrund heller ausgesparten Mustern hat ihre Parallele im b(onum est) p. 221 Ps 91, was schließlich verschiedene Fragen mit sich zieht, u.a. die, ob Folchart seinen Schreibteil selbst illuminierte. Auf den Seiten 363-365 übernimmt wieder der I-Schreiber von p. 332-335 (vgl. p. 363 Sicut non tres Increati, nec tres Immensi! sed unus Immensus; p. 364 et trinitas In unitate). Zum I-Schreiber vgl. [Sang. 54] (Nr. 107).