Utopia, armarium codicum bibliophilorum, Cod. 111
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Ina Nettekoven: Das persönliche Stundenbuch Königs Karls VIII. von Frankreich - Ein Geschenk des Verlegers Anthoine Vérard? In: Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI. - 35 Stundenbücher aus Paris und den französischen Regionen im 15. und 16. Jahrhundert, Nr. 23a. Antiquariat Bibermühle, Kat. 61 (2009), H. Tenschert (Hg.), 404-412.

Handschriftentitel: Stundenbuch, Horae B. M. V. für den Gebrauch von Paris.
Entstehungsort: Paris
Entstehungszeit: um 1490: Meister Karls VIII.
Beschreibstoff: auf Pergament
Umfang: 107 Blatt, 8 Blätter im Verlauf des Textes eingefügt, 8 weitere am Ende.
Format: Oktav (182 x 125 mm).
Lagenstruktur: Die Lagenordnung ist aufgrund der engen Bindung und der eingeschalteten Einzelblätter nicht zuverlässig zu ermitteln.
Zustand: Von späteren Besitzern durch Blätter aus anderen Handschriften ergänzt, nicht ganz vollständig, aber glänzend erhalten.
Seiteneinrichtung: Zu 23 Zeilen, im Kalender zweispaltig zu 17 Zeilen. Textspiegel 113 x 68 mm
Schrift und Hände: rundliche Gotico-Antiqua in Braun, Blau, Rot und Gold.
Buchschmuck: 514 (davon 11 große) Miniaturen in Renaissancerahmen, meist mit Bas-de-page, zum Teil aber auch blattfüllend: 21 kleine Miniaturen im Text; 4 große und 10 kleine Miniaturen bzw. illuminierte Metallschnitte aus anderen Handschriften und Drucken nachträglich eingefügt; alle Textseiten mit vierseitiger Bordüre, meist oben, unten und zum Falz hin mit Pinselgoldgrund, Blumen, Akanthus und Grotesken, im äußeren Streifen jeweils zwei Miniaturen und erläuternde Verse in Mittelfranzösisch. Der Kalender mit Friesen von bis zu acht Bildern umgeben; die zweizeiligen Initialen in weißen Akanthusformen auf farbig Gründen, die einzeiligen Initialen entweder aus bunten Akanthusformen oder Pinselgold auf Farbgründen.
  • Die zwischen gotischer Bastarda und der durch die Renaissance in Europa eingeführten Antiqua stehende Schrift ist charakteristisch für die besten Pariser Handschriften gegen Ende des 15. Jahrhunderts. Die nämliche Schrift mit denselben Motiven des Schriftdekors, dem Wechsel von einzeiligen Buchstaben in Pinselgold und Akanthusformen in einer streng alternierenden Reihenfolge, findet sich ebenso wie die charakteristischen Zeilenfüllstreifen, die Knotenstöcke und die durch Blattwerk belebten Leisten, in den sogenannten Très Petites Heures der Anne de Bretagne (Paris, BnF, n.a. lat. 3120).
  • Die Miniaturen
    Der Kalender auf fol. 2-7v ist mit einem Fries von Bildern umgeben, die jeweils oben für die Monate üblichen Tätigkeiten und die Tierkreiszeichen zeigen; die untere und äußere Rahmenleiste hingegen ist den wichtigsten Heiligentagen und Festen gewidmet; dabei variiert der Maler je nach Bedeutung der Tage die Anzahl seiner Bilder, die grundsätzlich bei Einzelfiguren sechs Bildfelder ermöglichen.
    fol. 8: Zu den Evangelien-Lesungen ist eine Miniatur eingefügt, die aus einem Rouennaiser Stundenbuch der Zeit um 1470 stammt: Die Evangelisten in einer Miniatur aus vier Bildfeldern: Johannes auf Patmos, die anderen als Autoren in ihren Studierstuben. Die Rückseite (fol. 8v) wurde durch eingeklebte Metallschnitte aus gedruckten Stundenbüchern in den Bordüren (aus der Zeit nach 1505 in zeitgenössischem Kolorit) dem Layout des Manuskriptes angeglichen. In der Johannespassion (fol. 9v) beginnt in den Bordüren ein typologischer Zyklus zur Heilsgeschichte, dessen Einzelszenen in den Bildunterschriften näher erläutert werden (für eine detaillierte Beschreibung der Zyklen verweisen wir auf die Beschreibung dieser Handschrift in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter I, Nr. 61. Ferner wird in Kürze eine Monographie zu diesem Stundenbuch erscheinen).
    fol. 14 und 15: Ganzseitige Doppelminiatur mit Stammbaum Adams und Wurzel Jesse, in deren Zentrum befindet sich Maria mit Kind im Strahlenkranz auf Mondsichel, unten rechts dazu der Kuß an der Goldenen Pforte. Daß diese Darstellung – ähnlich wie in der unter Nr. 23 beschriebenen Handschrift – zum Beginn des Marien-Offiziums stehen sollte (die Eingangsminiatur dazu fehlt nämlich in diesem Manuskript) ist eher unwahrscheinlich, da die Verso-Seite und die darauf folgende Recto-Seite leer gelassen wurde.
    Aus verschiedenen Teilen zusammengefügt ist die Komposition auf fol. 16v: Die Verkündigung stammt aus einer kleineren Handschrift, in die Bordüren wurden zwei kolorierte Metallschnitte aus gedruckten Horarien um 1505 eingeklebt: Erziehung Mariens und Hl. Nikolaus.
    Zu den Perikopen jeweils ein Kleinbild im Text und ein Bild des Evangelisten im Rand: fol. 17: Verkündigung mit Lukas; fol. 21: Geburt Christi mit Matthäus, fol. 19: Treffen der Jünger in Emmaus mit Markus. Zu den Mariengebeten ebenfalls ein Bild im Textfeld, während in der Bordüre der typologische Zyklus weitergeht: fol. 18v: Beweinung, fol. 19v: Thronende Madonna.
    Zum Marien-Offizium fehlt das Eingangsbild zur Matutin; ersetzt werden sollte es offenbar durch die fehlplazierte Verkündigung von fol. 16v. Zu den übrigen Stunden: große Miniaturen in Renaissancearchitekturen mit Textzeilen unter dem Bild und im Bas-de-page ergänzende Szenen oder Figuren: Heimsuchung (fol. 35) mit Propheten unten. Geburt Jesu (fol. 41v) mit zwei Hirten hinten, Anbetung der Hirten unten, Verkündigung an die Hirten (fol. 45) mit musizierenden Engeln unten. Anbetung der Könige (fol. 48) mit Herodes und den drei Königen unten. Darbringung im Tempel (fol. 51) mit heidnischen Statuen, die von ihren Sockeln fallen, Propheten unten. Trinität (fol. 54 – zur Marien-Vesper!), Joachim und Anna beim Opfer unten. Beginn der Komplet nach fol. 56 fehlt. fol. 60v: Kleinbild mit Himmelfahrt. Der Anfang der Hl. Kreuz-Horen fehlt; zu den Hl. Geist-Horen: Himmelfahrt (fol. 62) mit Elias im feurigen Wagen unten. Zu den Bußpsalmen: Bathseba im Bade (fol. 64) mit David und Goliath unten. Aus derselben Rouennaiser Handschrift wie fol. 8: Kreuzigung Christi (fol. 70), Verso-Seite durch aufgeklebte Bilder von Katharina und Apollonia dem Rest angeglichen. Zum Toten-Offizium: Hiob im Glück! (fol. 75v) mit seinem Vieh unten.
    Die Suffragien mit Kleinbildern: Trinität (fol. 99v), Drachenkampf Michaels und Johannes der Täufer in der Wüste (fol. 100), Johannes der Evangelist (fol. 100v), Petrus und Paulus, Jakobus als Pilger (fol. 101), alle Apostel (fol. 101v), Stephanus (fol. 102), Laurentius, Christophorus (fol. 102v), Sebastian (fol. 103v), Nikolaus (fol. 104), Claudius (fol. 104v), Antonius (fol. 105v), Anna, Magdalena (fol. 106), Katharina (fol. 106v), Margarete im Drachen (fol. 107), Genoveva (fol. 107v).
  • Die Bordürenzyklen
    Die Bordüren schmücken die Handschrift über weite Strecken mit erzählenden Bildfolgen, deren Inhalt in den gereimten Bildunterschriften erläutert wird. Hier beginnt es mit einer typologischen Gegenüberstellung zur Heilsgeschichte, die auf fol. 17v mit der Taufe Christi und der Traube aus Kanaan einsetzt und auf fol. 53v mit der Marienkrönung und mit König Salomo, der seine Mutter Bathseba zu seiner Rechten thronen läßt, endet.
    In der gleichen Art wie die typologischen Bilderpaare folgen Darstellungen des Marienlebens, die durch das Bas-de-page von fol. 54 eröffnet werden, worin das zurückgewiesene Tempelopfer der Eltern Mariens gezeigt wird. Auf fol. 54v setzt sich die Erzählung dann fort mit der Verkündigung an Joachim auf dem Felde und der Annenverkündigung. Der Zyklus endet auf fol. 60v mit den drei Frauen am Grabe. Es folgt eine Serie von Darstellungen aus den jüdischen Altertümern, die wiederum typologische Elemente aufweist: Auf fol. 61 setzt es ein mit Judith, die das abgeschlagene Haupt des Holofernes auf den Zinnen der Stadtmauer zur Schau stellt. Eine weitere Bildfolge (fol. 64v) illustriert die Strophen mit den Weissagungen der Sibyllen, worin immer ein Bild der Sibylle und eine Darstellung mit dem Inhalt ihrer Weissagung gezeigt werden. Ab fol. 71v konfrontiert die Bordüren-Narration noch einmal im Sinne der Typologie christliche Heilswahrheiten mit alttestamentarischen Bildern. Zu Beginn des Toten-Offiziums (fol. 75v) steht wie eine Art Frontispiz zu den folgenden Szenen, die die Geschichte Hiobs schildern, die Hauptminiatur mit Hiob noch im Glück. Schließlich enthält die Handschrift eine Serie von Geschichten des Propheten Daniel, die sich ab fol. 85v entrollt. Den Abschluß bilden zwei Szenen aus der Geschichte des Holofernes, die eigentlich zu dem Zyklus gehören, der auf fol. 61 endet, hier vom Maler am Ende des Buches angefügt wurden.
  • Zum Stil
    Der Buchschmuck und die Einrichtung der Textseiten mit jeweils zwei Randbildern und zugehörigem Text erlaubt, die Handschrift sicher nach Paris zu lokalisieren. Auch ohne die eingemalte Devise Vérards wäre der Zusammenhang zu gedruckten Stundenbüchern offensichtlich. Der hier vorgestellte Codex wirkt wie eine handschriftliche Version dessen, was Vérard in einer bei beispiellosen Kraftanstrengung dann auch als gedruckte Auflage verwirklichte. Dazu könnte sehr gut passen, daß der Verleger neben dem Druck eine handgeschriebene Fassung herstellen ließ, für den regierenden König, unter dessen Schutz er das finanziell sehr gewagte Unternehmen stellen wollte. Ganz eindeutig unterscheidet sich das vorliegende in seiner Intention von dem in der vorhergehenden Nr. beschriebenen Gebetbuch, da es erzählende Bordüren mit begleitendem Text in französischer Sprache besitzt. Es scheint durch seine didaktisch unterfütterte Bilderfülle dem geradezu sprichwörtlichen Bildungshunger des jungen Königs entgegen gekommen zu sein, der zeitgenössischen Zeugnissen zufolge des Lateinischen nicht mühelos mächtig war und für den infolge dessen zahlreiche Übersetzungen ins Französische angefertigt wurden. Diese Handschrift und ein dazu passendes gedrucktes Stundenbuch für Karls Schwester, die bis ca. 1490 als Regentin Frankreichs fungierte, das ein stark individualisiertes Exemplar aus den oben erwähnten Grandes Heures ist, legen ein beredtes Zeugnis ab über das kluge Geschäftsgebaren Vérards. Offenbar machte er dem König ein kostbares, reich illustriertes und nach seinen persönlichen Vorlieben gestaltetes Stundenbuch zum Geschenk, weil dieser als Mäzen und Förderer für das Pariser Druckwesen die größte Hoffnung war. Die um 1490 endgültig verdrängte Interims-Regentin Anne de Beaujeu indes, die auch ein hohes Ansehen (unter anderem als Bibliophile) im Land genoß, erhielt ebenfalls ein kostbares – aber eben nicht ganz so wertvolles – Geschenk wie der Monarch, da Vérard sich als Verleger und Buchhändler weiterhin ihrer Gewogenheit versichern wollte.
Einband: Gebunden in rotes Maroquin des 17. Jahrhunderts mit Semé von Fleurs-de-lys, der Rücken restauriert.
Hauptsprache: Lateinische Handschrift
Inhaltsangabe:
Kalender und ein Gedicht zur Erläuterung der erzählenden Zyklen im Rand in französischer Sprache.
  • fol. 2: Kalender in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, Pariser Formular.
  • fol. 9: Perikopen: Offenbar waren für dieses Manuskript keine Perikopen in herkömmlicher Weise vorgesehen. Einen äteren Besitzer scheint das gestört zu haben und so erklärt sich die Einfügung eines Titelblattes aus einer früheren Rouennaiser Handschrift, das die ersten Zeilen des Johannesevangelium aufweist. In ihrer ursprünglichen Fassung hatte das Stundenbuch für Karl VIII. nur die Passion mit eingeschalteten Mariengebeten:
    • Der Beginn der Johannespassion auf fol. 9 fehlt,
    • Lukaspassion (fol. 17),
    • O Intemerata (fol. 18v),
    • Markuspassion (fol. 19),
    • Obsecro te (fol. 19v),
    • Matthäuspassion (fol. 21).
  • fol. 23: Marien-Offizium:
    • Matutin (Anfang fehlt),
    • Laudes (fol. 35),
    • Prim (fol. 41v),
    • Terz (fol. 45),
    • Sext (fol. 48),
    • Non (fol. 51),
    • Vesper (fol. 54),
    • Komplet (fol. 58).
    • Horen des Hl. Kreuzes (fol. 61),
    • Horen des Hl. Geistes (fol. 62).
    • fol. 64: Bußpsalmen und Litanei (fol. 72).
    • fol. 75v: Toten-Offizium.
    • fol. 99v: Heiligensuffragien: Trinität (fol. 99v),
    • Michael (fol. 100),
    • Johannes der Täufer (fol. 100),
    • Johannes der Evangelist (fol. 100v),
    • Peter und Paul (fol. 101),
    • Jakobus der Ältere (fol. 101),
    • alle Apostel (fol. 101v),
    • Stephanus (fol. 102),
    • Laurentius (fol. 102v),
    • Christophorus (fol. 102v),
    • Sebastian (fol. 103v),
    • Nikolaus (fol. 104),
    • Claudius (fol. 104v),
    • Antonius Abbas (fol. 105v),
    • Anna (fol. 106),
    • Maria Magdalena (fol. 106),
    • Katharina (fol. 106v),
    • Margarete (fol. 107),
    • Genoveva (fol. 107v).
    Zum Text gehören erzählende Verse in französischer Sprache jeweils mit zehnsilbigen Versen in Strophen zu vier Zeilen; davon beziehen sich 67 Strophen auf die Geschichten von Daniel, Hiob und Judith, 14 auf das Marienleben, neun auf die Verleugnung Petri und die Geschichte von Christus vor Pilatus. Zwölf weitere Strophen behandeln die Weissagungen der zwölf Sibyllen. 71 Strophen schließlich bieten in typologischer Gegenüberstellung Geschichten aus dem Neuen und dem Alten Testament, oft mit denselben Analogien wie im Heilsspiegel. Diese 181 Strophen sind – wie andere typologische Texte – von vornherein als Begleitung von Illustrationen gedacht gewesen; sie sind mit jeweils zwei Szenen versehen, was bereits einen Grundbestand von 362 Miniaturen ausmacht.
Entstehung der Handschrift:
  • Ein kunsthistorisch und historisch großartiger Fund, das persönliche Stundenbuch des Monarchen, in ausgezeichnetem Zustand, illuminiert von einem bislang nicht genügend gewürdigten Pariser Buchmaler, der sehr eng mit dem Verleger Anthoine Vérard zusammengearbeitet hat.
  • Ein königliches Buch! Für die Buchmalereiforschung, die sich mit der Pariser Kunst um 1500 und mit den Scharnierstücken zwischen Handschriftenwesen und Buchdruck beschäftigt, ein unschätzbares Juwel.
Provenienz der Handschrift: Auf fol. 1 findet sich das Widmungsschreiben Anthoine Vérards an König Karl VIII: Explizit erwähnend „Par quoi jay compose ces p(rese)ntes heures Et a lonneur de vous mon souverain et naturel seigneur et tresxpristien roy.“ Am unteren Rand findet sich, eventuell eigenhändig vom König eingetragen, seine Devise „J’aime tant fort une“ und, stärker ausgekratzt, die Signatur „Charles“. Am Ende der Handschrift steht die Hausmarke des berühmten Pariser Verlegers Anthoine Vérard AVR (vgl. J. MacFarlane, Antoine Vérard, Biblographical Society, 1900, Tf. LXXVI f.), von Adlern präsentiert (fol. 107v). Von M. B. Winn 1983 ebenfalls für einen Auftrag Vérards für Karl VIII. gehalten, weil dessen Signatur CHARLES auch auf dem letzten Blatt und einem hinzugefügten zu finden ist. Im 19. Jahrhundert war das Manuskript in der Sammlung Dawson Turner, im 20. in jener des Herrn Mirgodin in Paris.
Literatur:
  • Eine ausführlichere Beschreibung findet man in:
    Heribert Tenschert (Hrsg.): Leuchtendes Mittelalter I, 1989 Nr. 62.
  • Zum Meister Karls VIII. siehe die unter Nr. 23 angegebene Literatur.
    Noch für dieses Jahr ist ein Faksimile der Handschrift mit Kommentar und Zensus zu diesem Künstler geplant.