Kurzcharakterisierung:Prachthandschrift für den feierlichen Messgottesdienst im Kloster St. Gallen um 1050/70, mit den Sequenzen des St. Galler Mönchs Notker des Stammlers (gest. 912)(smu)
Standardbeschreibung: Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 534-537, Nr. 159.
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Zusätzliche Beschreibung: Scherrer Gustav, Verzeichniss der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle 1875, S. 128-129.
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Online seit: 31.12.2005
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 376
Pergament · 436 pp. · 26.3 x 18.5 cm · St. Gallen · Mitte des 11. Jahrhunderts
Kalendar, Computus, Tropar, Graduale, Sequentiar
Wie zitieren:
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 376, p. 315 – Kalendar, Computus, Tropar, Graduale, Sequentiar (https://www.e-codices.ch/de/list/one/csg/0376)
Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 534-537, Nr. 159.
Lagenstruktur:
Zumeist Quaternionen: 14+1 (p. 1-2 u. 7-8 = Bifolium, p. 3-6 = Bifolium, p. 9-10 Einzelbl.), 28 (p. 11-26), 36 (p. 27-38), 48 (p. 39-54) usw.
Seiteneinrichtung:
Schriftspiegel im Kalendar u. Computus 17 x 13 cm, einspaltig zu 22 Zeilen, im Tropar u. Graduale 17 x 13,8 cm, einspaltig zu 18 Zeilen, im Sequentiar 16,3 x 16 cm, zweispaltig zu 19 Zeilen (Neumenspalte), Spiegel des Notkerbildes 17,1 x 13,6 cm
Schrift und Hände: karolingische Minuskel,
Musiknotationen: neumiert über den Zeilen sowie am Rand (Sequentiar), wohl von einer Hand, mit Ergänzungen aus dem 12./13. Jh.
Buchschmuck:
Im Kalendar KL-Initialen in Gold u. Minium, grün schattiert. Im Tropar einige Initialen in Gold u. Minium mit Schattierung in grün u. weiß gehöhtem Purpur. Im Graduale u. Sequentiar zu den Hochfesten größere Initialen in Gold u. Minium, grün u. blau oder weiß gehöhtem Purpur, wellig oder gestuft umrandet. Textzierseiten in Rustica, teilweise gerahmt, mit purpurnen, blauen, grünen u. gelben Schriftbalken. Zu den Anfängen des Graduales u. Sequentiars Autorenbilder, im Graduale u. Sequentiar Bilder zum Text, alle in leichter Deckfarbenmalerei mit Purpur, Blau, Grün, Gelb oder hellem Ocker, Weiß, Gold, pergamentaussparend.
Inhaltsangabe:
Inhaltsübersicht: p. 1–12 Vorspann. – Teil I, Kalendar, p. 13–30. – Teil II, Computus, p. 31–38. – Teil III, Tropar, p. 38–81. – Teil IV, Graduale, p. 82–311. – Teil V, Sequentiar, p. 312–435. Inhalt u. Schmuck:
p. 1-12
Vorspann mit teilweise älteren, reskribierten Blättern
(p. 34)
Diagramm zum Mondalter an den Kalenden der Monate im Cyclus decemnovennalis
(p. 35-36)
Necessarium est expedire cur luna nunc XXX, nunc XX nona computetur
(p. 37)
Tabelle des großen, 532jährigen Osterzyklus, zwecks Auffinden der Wochen u. Tagesanzahl zwischen Pfingsten u. Johann Bapt., gezählt von 1064-1558
(p. 82)
Bild Gregors d. Gr., frontal thronend in pontifikaler Kleidung, die Rechte vor der Brust angewinkelt mit offener Handfläche, in der Linken auf das Knie gestützt das Buch, aus der Wolke in der linken oberen Bildecke fliegt die Taube des Hl. Geistes, mit ihrem Kreuznimbus den Nimbus des Kirchenvaters überschneidend, auf das Ohr Gregors zu. Der übereck gezeigte, verzierte Thron, dessen Rückwand mit einem Vorhang bespannt ist, nimmt mit seiner hohen Lehne die ganze Bildfläche ein, auch das Suppedaneum ist übereck gestellt. Goldleistenrahmen mit mäandrischer Füllung, über dem Bild eine Purpurleiste mit der goldenen Inschrift: Auferat hunc Gallo librum per saecula nemo
(p. 83)
oben Schriftbalken: pena vindicte rapientem nam ferit ipse, darunter: Domin. I. ante nat. Dni. a. A(d te levavi), große Initiale mit aus dem linken Schaft wachsendem, rankenförmig aufsteigendem Binnenmotiv, eine Kelchblüte treibend, wellige Umrandung, das (A)d TE als Initiälchen, TE in Ligatur mit vegetabilem Buchstabenkörper
(p. 99)
(In die natalis Dni. ad missam) P(uer natus), dünnbändriger Buchstabenkörper, der Bogen in der Mitte etwas gespalten, entlässt ein Binnenmotiv mit langen blättrigen Seitentrieben, in der Mitte Kelchblatt, gestufte Umrandung in Purpur
(p. 138)
Dom. Quadragesimae. I(nvocavit me), Initialkörper als goldener Baumstrunk mit zwei Zweigen u. Blattenden
(p. 188)
Fer. VI. in Parasceve. Domine audivi. TR. Eripe me Domine
(p. 190)
AΓIOC O ΘEOC AΓIOC ICKYPOC. A. Ecce lignum crucis
(p. 191)
Bild des Gekreuzigten mit Maria u. Johannes, Marias Haupt mit der Palla bedeckt, die Linke hält sie verhüllt u. trauernd an die Wange, schaut zu Christus auf, dessen bärtiges Haupt sich mit geöffneten Augen zu ihr neigt, Johannes schreitet, mit der Rechten akklamierend auf den Gekreuzigten zu, stark ausschwingender Körper Christi, das Lendentuch in der Mitte des rechts gewölbten Leibes geknotet, großer grüner Nimbus mit goldenem Kreuz, aus den fünf Wunden strömt Blut, kein Suppedaneum, Kreuz eingesteckt im flachen Boden, Titulus ohne Inschrift, Hintergrund farblich gestuft, etwas horizontal gewellt
(p. 190-191)
Bildtitulus auf Schriftbalken: Galle pater librum quisquis tibi subtrahat istum, ni cito restituat crimine digna luat
(p. 196)
(unten) In Dominico die sancti Pasche. In processione ad sepulcrum
(p. 197)
Quem queritis. Sedit angelus ad sepulcrum Domini
(p. 198)
Bild des Auferstandenen: Christus frontal in der über der Erde schwebenden Mandorla stehend, die Rechte zur Rede erhoben, in der Linken den Kreuzstab, Hintergrund farbig gestuft, Goldrahmenleisten mit Girlandenfüllung, von einem Band umwunden. Über dem Bild in goldener Rustica: Hoc opus acceptum tibi sit pie Galle per aevum
(p. 199)
oben Fortsetzung der Widmung mit Anathema: At si quis rapiat, raptum numquam bene vertat, darunter große Initiale R(esurrexi et adhuc), mit schlankem Goldkörper, das sich in Ranken mit Blättern, Fruchtknoten u. Kelchblüten verzweigende Binnenmotiv entwächst dem Schaft, stufenförmige Umrandung
p. 312-435
Teil V, Sequentiar mit Widmung u. Vorrede
, - zwischen p. 311 u. 312 ist das Zürcher Blatt mit dem Bild des Notker Balbulus (um 840-912) herausgeschnitten (das Blatt stammt aus der mittleren Lage des Quaternios mit den Seiten 306/307-318/319, der Falz ist an p. 312/313 noch zu sehen; vgl. dagegen Boeckler, Züricher Notkerbild, S. 161). Auf dem Recto des Blattes stehen drei Alleluia (13. Jh.), auf dem Verso das Bild Notkers als Dichter der Sequenzen (S. NOTKERVS nat. 9, † 975; 56 von späterer Hand darunter geschrieben): Notker als Mönch mit Kapuze auf dem Kopf, im Dreiviertelprofil nach rechts am Pult sitzend, auf dem er den linken Ellenbogen, seine Wange in die Hand legend, aufstützt, eine Doppelturmfassade mit einsichtiger Apsis hinterfängt die Gestalt, im Goldleistenrahmen auseinandergezogen die Buchstaben NOTKERUS -
Optans misceri Notkerus in aethere plebi, Cuius dulci sonis vox numquam cessat ab ymnis. Gaudia dum licuit crucis hoc in carmine lysit. Quod Domino laudi Galloque studebat honori. (MGH Poet. lat. V, 404; Schaller/Könsgen, Nr. 11386)
(p. 313-314)
Doppelseite in Goldschrift mit der Widmung des Werkes an Bischof Liutward von Vercelli († 900/901): Summe sanctitatis merito, Summi sacerdotii decore sublimato, Domino dilectissimo Liuutardo incomparabilis viri Eusebii Vercellensis epi., dignissimo successori abbatique coenobii sanctissimi Columbani, Ac defensori cellulae discipuli eius mitissimi Galli, necnon et archicapellano gloriosissimi imperatoris Karoli Notkerus cucullariorum sci. Galli novissimus
(p. 315-317)
Brief Notkers an Bischof Liutward: C(um adhuc iuvenculus essem)
(p. 318)
ursprünglich leer wohl für den Titel (vgl. Sang. 380 p. 124 - Nr. 160), In festo sci. Constantii (13. Jh.)
(p. 319)
Bild der frontal thronenden Muttergottes: Das Kind sitzt ebenso frontal im Schoß der Mutter, von ihren Händen gehalten, Gemmenthron ohne Lehne, aber mit Sitzkissen, den Hintergrund füllt, an einer Stange aufgehängt, durchgezogen ein Vorhang, welliger Boden im Vordergrund wie
p. 82
p. 320 N(atus ante secula), das (N)AT u. US in Ligatur
(p. 351)
Dom. s. Paschae. L(audes salvatori), rechtwinkeliger Buchstabenkörper mit Knotung im Schaft, rechts gestufte Schattierung, (L)AU(DES) als Initiälchen
(p. 373)
(Dominica s. Pentecostes. Occidentana). S(ci. Spiritus assit nobis gratia)
(p. 397)
De sco. Gallo. Iustus ut palma minor. D(ilecte deo Galle)
(p. 406)
De sco. Otmaro abbate. Metenssis minor. L(aude dignum)
Entstehung der Handschrift:
Die Hs. bildet textlich eine wohlkomponierte Einheit aller Gesangsteile der Messe sowie der zeitrechnerischen Hilfsmittel (Kalendar u. Computus), wobei der Sequenzen-Teil (V) durch das sich heute in Zürich befindliche Notkerbild u. die damit verbundene Widmung des Sequenzenbuches von Notker Balbulus (um 840-912) an Bischof Liutward von Vercelli († 900/901), Abt des Kolumbanklosters Bobbio, seit 880 Bischof von Vercelli, seit 883 Erzkaplan, seit 878 Erzkanzler Kaiser Karls III. (881-887), von historischer Bedeutung ist. Karl u. Liutward besuchten 883 St. Gallen, was Notker zum Anlass nahm, ihm das Sequenzenbuch zu widmen. Dieser Einheit entspricht auch der in allen Teilen einer Hand zuzuschreibende Initialstil mit seinen Nuancen in Schattierung u. Umrandung. Er verrät eine hohe künstlerische Sicherheit u. Routine, die sich auch im Einsatz von Schriftzierseiten zeigt. Die Plazierung der Bildseiten zeugt weiter von seiner geistigen Überlegenheit. Er verbindet die Bilder mit dem Text, indem er sie aus ihm «herausliest». Besonders eindrücklich ist dieses am Kreuzigungs- u. Osterbild (p. 190 u. 198) zu sehen. Für die Illustration des «Quem queritis» (p. 197) nimmt er nicht wie üblich das Bild der Frauen am Grabe in Anspruch, sondern schafft mit dem Christus in der Mandorla - sonst Teil der Himmelfahrt Christi - einen neuen Typus des Osterbildes, der noch in der barocken Osterliturgie nachlebt. Mit der Kreativität verbunden ist ein neues, monumentales Stilgefühl. Die Bildkompositionen enthalten verschiedene Komponenten, das Notkerbild beispielsweise folgt byzantinisch beeinflussten Bildern aus Montecassino, das Marienbild, wie schon Boeckler sah, byzantinischen Marienikonen vom Typus der Nikopoia. Auf eine byzantinische Hs. des 9.-10. Jh. verweisen auch die mit Bändern umwundenen Rahmenfüllungen des Kreuzigungs- u. Osterbildes. Die einheitliche, nicht pastose, doch tragende Farbgebung der Bilder setzt die Hs. von den jüngeren pastos gemalten Sang. 338, 340 u. 341 (Nr. 161-163) ab. Ihre farbliche Anbindung in den Blau- u. Purpurtönen an die Hss. der Sigebert-Gruppe (Nr. 152, 155) ist nicht zu übersehen. Ihr Zeitstil entspricht demjenigen der für Kaiser Heinrich III.
(1046-1056) geschaffenen Miniaturen in den Echternacher Prachthss. wie dem Evangeliar aus dem Dom zu Speyer (El Escorial, Vitr. 17). Die p. 37 mit dem Jahr 1064 beginnende Tabelle des großen Osterzyklus dürfte kein zwingendes Argument da für sein, dass die Hs. erst danach entstand. Vgl. Nr. 160 u. 161.
Bibliographie:
Gerold Meyer von Knonau, in: Lebensbild des heiligen Notker von St. Gallen, in: Mitteilungen der Antiquarischen Gesellschaft Zürich 19/4, 1877, S. 1-17 und Tafel I.