St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 1758
Scarpatetti Beat Matthias von, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Codices 1726-1984 (14.-19. Jahrhundert), Stiftsbibliothek St. Gallen 1983, S. 26-29.
Handschriftentitel: Graduale de tempore / Kyriale / Sequentiar für die Stiftskirche St.Gallen
Entstehungsort: Chorbibliothek des Stifts St. Gallen
Entstehungszeiten:
- 15./2 / 16. Jh.
- 18. Jh.
Beschreibstoff: Starkes, regelmäßiges Pergament mittlerer Qualität.
Umfang:
478 pp.
Format: 50/50,5 x 33/34
Seitennummerierung: Diverse alte und neuere Foliierungen: 1. Römisch, zeitgenössisch (15./16. Jh.), Mitte oben, rote Tinte, durch Beschneiden knapp lesbar: 1-47, 48-54 radiert, springt 79/90, 153/162, 166/157, 157 wird zu 167 korrigiert, 158/168, 169- 206. 2. Arabisch, 18. Jh., oben rechts, rote Tinte, springt 143/152 (fehlt Lage), 205/207 (fehlt ein Blatt), 247/250 (fehlen zwei Blatt). Moderne Paginierung.
Lagenstruktur:
Quaternionen. Bl. 99/100 und 105/106 eingehängt als Ersatz für 3. Bogen der Lage, nach p. 286 fehlt eine Lage (Verlust nach der 2. Foliierung 18. Jh.), nach p. 394 ein Blatt (do.), nach p. 476 zwei Blätter herausgeschnitten (do.), es sind jene des letzten Quaternio, von dem nur Blatt 477 /478 übrig, am Schluß vier Blätter herausgeschnitten, das letzte Blatt auf dem Spiegel.
Seiteneinrichtung:
Einspaltig,
36/38 x 24, acht Notensysteme, Liniierung rote Tinte.
Schrift und Hände:
Textualis quadrata, zur Rotunda neigend, von einer Hand des 15./2 oder 16. Jhs.
Musiknotationen: Hufnagelnotation auf vier Linien.
Buchschmuck:
-
Hervorragende Init. fig. über zwei Systeme, mit Blattgold:
- p. 1 (Advent) blaue A auf rotem, schwarz/weiß ornamentiertem Grund mit Goldleiste rechts, darin knieender, bärtiger König in grünem Rock mit Zackenkrone (David ?), auf gelbem Gebetschemel, über ihm Christus in Wolke in blauem Gewand, mit Reichsapfel, am linken und obern Blattrand reiche Bordüren mit Ranken, Blüten und Früchten in grün/blau/rot, darin ein hübsches, gelbes Reh;
- p. 39 (Weihnacht) gleich konzipierte P, nicht fig., mit weiß/grüner Ornamentik auf rotem Grund, Bordüren am untern Rand;
- p. 59 (Epiphanie) goldene E, innen grün mit rot-gelbem Rankenwerk, auf rotem Grund mit weißen Dreipässen, Bordüren am unteren Rand mit zwei Störchen, einer einen Frosch fangend, in Blüte gelbes Äffchen;
- p. 74 (Septuagesima) C wie p. 1, mit wenig Bordüren am obern Rand;
- p. 99 (1. Fastensonntag) rote I auf gold/blau/rot/grün kariertem Grund, der später zugefügt ist und völlig aus dem Rahmen fällt (cf. Ms. 1757, p. 190);
- p. 210 (Palmsonntag) goldene D, innen orange, auf grünem Grund, beides gelb verziert, Bordüren am linken Rand, mit Eichhörnchen;
- p. 260 (Ostern) die Init. R herausgeschnitten, im 18. Jh. durch blauen Buchstaben auf starkem Gelb ersetzt, ebenso ein Teil der Bordüren;
- p. 290 (Pfingsten) blaue S, innen grün, auf Goldgrund (übermalt), reiche Bordüren auf den drei äußern Rändern, unten ein blauer Falke und zwei gelbe Löwen;
- p. 302 (Trinitatis) blaue B mit Narr im Schaft, innen rot, auf grüngerahmtem Goldgrund, Bordüren links und unten, mit Vogel;
- p. 306 (Fronleichnam) blaue C, Rest nicht ausgeführt, später zugefügt stehender Christus mit goldenem Nimbus, als Auferstandener im Lendentuch mit Stigmata, die Linke segnend, die Rechte an der Seitenwunde, aus der Hostien in einen Kelch fallen, Zeichnung mit Tinte, nur Seitenwunde und Kreuz im Nimbus rot, vermutlich Arbeit des 18. Jhs.;
- p. 309 (Kirchweihe) blaue T auf Goldgrund, darin dreischiffige spätgotische Kirche mit einer Art Querschiff (?), Glocken- und Nebenturm, ersterer mit Auferstehungsfahne, Kirche auf festungsartigem Sockel, wird am Nebenturm gehalten von stehendem Christus, am Chor von St.Gallus (?) in schwarzem Skapulier (Kukulle?) mit Nimbus und Stab, im Vordergrund sechseckiger, einröhriger Brunnen, vielleicht im Zusammenhang mit dem Bau des gotischen Chores mit dem sogenannten Schulturm durch Abt Ulrich Rösch (1463-1491), daher evtl. idealisierte Ansicht des Chores des Gallusmünsters mit Hauptturm und Schulturm, cf. A. Hardegger u.a., Die Baudenkmäler des Kantons St. Gallen, Zürich 1922, zur Rekonstruktion der spätmittelalterlichen Bauten p. 85ff., die Miniatur wurde später nachgemalt, reiche Bordüren links und oben, mit Dudelsack blasende Narren, auf dergleichen p. 309 kleinere Initiale, Gesicht mit gestreckter Zunge, gemalt;
- p. 318 (1. Sonntag nach Pfingsten) blaue D wie p. 1, darin weltliche Gestalt mit Bart, langem Haar und roter Mütze in grauem Gewand, hält Spruchband mit Initium Ps. 1, darüber Christus in Wolke mit Reichsapfel (Stifterbildnis?);
- p. 375 (Ordinarium Missae) rote R auf grünem, rankenverziertem Grund, in R-Schlaufe gelbe Sonne mit Gesicht und Strahlen, im 18. Jh. zugefügt, auch restliche Initiale wohl nachgemalt, wenig Bordüren;
- p. 391 Bordüren zu gewöhnlicher Init.;
- p. 404 (Weihnachten, 1. Messe) rote G auf orangem, rankenverziertem Grund, in grünem Rahmen, wohl im 18. Jh. übermalt, Bordüren oben alt.
- Rubrizierung.
- Zahlreiche kleinere rote, blaue, tintenfarbene Init. in lombardähnlichen und stark variierenden, bisweilen bizarren Formen, mit Fleuronne aller Art, z. T. im 18. Jh. zugefügt oder weiter verziert.
- Die Illuminierung des 15./16. Jhs. stammt vom gleichen Meister wie jene des Cod. 1757, dessen erste Initiale mit 1473 datiert ist. Auch die Zutaten des 18. Jhs. stammen von denselben Händen wie Cod. 1757. Zahlreiche kleinere und größere Tilgungen, bes. p. 391-403, 434-442: neue Gesänge über völlig getilgten Partien.
Spätere Ergänzungen: Zusätze späterer Hände p. 146, 310-311, 364-366, eine Marginalie 16. Jh. p. 257, feine rote Interlinearglossen 18. Jh. p. 432, 434[433].
Einband:
Einband 15./16. Jh., helles Schweinsleder auf Holz, Deckel abgeschrägt und für die Lederbänder der Schließen zugerichtet, fünf Bünde, feine Streicheisenlinien und Rollen-stempel mit Ranken, Blüten und Allegorien der Kardinaltugenden, zwei breite und schwere, vom hinteren Deckelrand auf die vordere Deckelmitte gehende Langriemenschließen aus Messing, zwei Wolfs- oder Hundeköpfe mit langer, durchlöcherter Zunge darstellend,
zehn schwere Beschläge, in den Eckbeschlägen je zwei zweibeinige Fabelwesen mit sich
verschlingenden Köpfen, wuchtige Buckel, Ledersignakel (litg. Fragm.) mit Holzstäbchen. Im Rücken verarbeitet Fragm. litg. Pg. Hs. des 12. Jhs., oben lesbar Stelle aus 2 Cor.4,5. Neubindung im 18. Jh. unter Verwendung des alten Materials (Alter der
Beschläge nicht völlig geklärt, vgl. jene des Cod. 1757). Anhaltspunkt für die Datierung der Neubindung: Schrift der neuen Foliierung (Nr. 2 der obigen Aufstellung) und der
Marginalien p. 287, sodann die später zugefügte Initiale p. 99, die zeitlich dem Teil II von Cod. 1757, 18. Jh., zuzuweisen ist.
Inhaltsangabe:
Graduale de tempore / Kyriale / Sequentiar für die Stiftskirche St.Gallen
- 1-375 [Graduale de ternpore per totum annum]
- 375-391 /403 [Kyriale (Fragm.)] Überwiegend getilgt. Sichtbar (375-378, 381, 383-391) Kyrie, Gloria mit Tilgung von kleinen Resten von Tropen (z. B. 377). Das Gloria (376-378) alternierend Orgel-Chor. Vom getilgten Rest des Ordinariums sind zu erkennen die Teile (391-396) Sanctus, (396-399) Agnus, (399-403) Credo. Darüber Alleluiaverse, (378-381) Fronleichnam, (381-383) Ostern, (391-403) Votivmessen.
-
404-478
[Sequentiae de tempore per totum annum]
- (404) Weihnacht: Grates nunc omnes (Notker = N), Natus ante secula (N),
- (408) Eya recolamus
- (412) Stephanus: Hanc concordi famulatum (N)
- (415) Johannes Ev.: Iohannes iesu christo (N)
- (418) Innocentes: Laus tibi christe (N)
- (421) Epiphanie: Festa christi omnis cristianitas (N)
- (425) Ostern: Laudes saluatori (N)
- (432) Victime paschali laudes
- (442) Fronleichnam: Calice nos inebria
- (444) Mundi renouatio noua
- (447) Auffahrt: Summi triumphum regis (N)
- (452) Pfingsten: Sancti spiritus gratia (N)
- (457) Veni sancte spiritus
- (459) Trinitatis: Benedicta semper sancta sit trinitas
- (463) Fronleichnam: Lauda Sion saluatorem
- (470) O panis dulcissime
- (475) Kirchweihe: Psallat ecclesia mater (N). Bricht ab.
-
Tilgungen (434-442), ersetzt durch Antiphonen für Votivmessen, u. a. Missa pro vitanda mortalitate.
Mit den Codd. 1757 und 1758 liegt die früheste sanktgallische Sequenzensammlung in diastematischer Notation (auf Linien, eindeutig lesbar) vor; s. auch Cod. 546. Vgl. Labhardt (s. Cod. 1757), p. 167, 178-182, 258f., 264f.; J. Duft, Gesangskunst-Buchkunst, in: Katholische Kirchenmusik (Chorwächter Jg. 96), St.Gallen 1971, p. 163.
Entstehung der Handschrift: Der Band stammt aus der Chorbibliothek des Stifts St.Gallen, cf. Cod. 1757.