Für diese Handschrift sind folgende Beschreibungen vorhanden

  • Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 422-425, Nr. 107.
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  • Scherrer Gustav, Verzeichniss der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle 1875, S. 25.
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St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 54
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Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 422-425, Nr. 107.

Handschriftentitel: Evangelistar (Gundis-Codex)
Entstehungsort: St. Gallen
Entstehungszeit: gegen 900
Alternative Bezeichnung: Gundis-Codex
Katalognummer: 107
Umfang: 185 (184) pp.
Format: 30,3 x 21,2 cm
Lagenstruktur: Zumeist Quaternionen: A (= Bifol., 1 auf dem Vorderdeckel aufgeklebt, p. 1-2 leer), 18 (p. 3-18) - 118 (p. 164-179), 123 (p. 180-185, 184-185 auf dem Rückdeckel aufgeklebt)
Seiteneinrichtung: Schriftspiegel 20 x 15,5 cm, einspaltig zu 22 Zeilen.
Schrift und Hände: karolingische Minuskel wohl von zwei Schreibern, in schwarzer Tinte
Buchschmuck: Titel u. Lektionsdaten in Uncialis oder Rustica mit Silber oder Minium. Zu allen Perikopen Initialen in Gold, Silber, Minium, fortlaufende Zeilen in Capitalis mit Gold u. Uncialis in Silber oder Schwarz. Titelseite u. Zierseiten zu den hohen Festen mit großen Initialen in Gold, Silber, Minium, Schwarz u. Grün, fortlaufende Zeilen in Capitalis oder Uncialis abwechselnd in Gold u. Silber.
Einband:
  • Alte Holzdeckel mit rotem Seidenüberzug, im Rücken zerstört, zwei Lederschließen mit Messingbeschlägen (15./16. Jh.). Im vorderen Innendeckel aufgeklebt eine rote Goldborte in Brettchenarbeit mit farbigen Seidenfäden und um helle Seide gesponnenem Goldlahn. Das lancierte Muster des Grundes besteht aus geometrischen, doppelten Winkellinien in Gold auf Rot, die in rautenförmiger Verflechtung regelmäßige Diagonalkreuze in Leinwandbindung umschreiben. Zur Weberichtung liegend broschiert ist eine weiße, blau geränderte Buchstabenfolge des Namens GVNDIS eingetragen. Maße: 2,5 × 12,8 cm; Bindung: Brettchengewebe mit Broschierung, ca. 78 Schnüre in gesamter Breite; Kette: Seide, rot, S- Zwirn; Schuss: Grundschuss aus Leinen(?)weiß; Broschierschuss: Seide, weiß und blau, leicht S-gedreht; Goldfaden Lahn um weiße Seele. Das Band weist in der Mitte und an den Rändern Spuren einer frühen Nagelung auf (Gudrun Sporbeck, Köln). – Die an den Seiten der Borte deutlich zu sehenden Nagelspuren deuten auf ihre Verwendung als Buchdeckelschmuck hin. Die Form gleicht den zum Buchdeckelschmuck vom 9.–12. Jahrhundert gerne verwendeten Gold-, Silber- und Emailplättchen. Die Seidenbrokate auf den Innendeckeln des Evangeliars Vadiana 294 (Nr. 102) lassen darauf schließen, dass in St. Gallen im 9. Jahrhundert Bucheinbände geschaffen wurden, an denen Goldbrokate – analog zu den Goldschmiedearbeiten in Gravur oder Treibarbeit sowie in Elfenbeinschnitzerei – als Buchdeckelschmuck verwendet wurden.
  • Brettchengewebe wie der Gundis-Beschlag sind im süddeutschen Raum im 9.–10. Jahrhundert beliebt und an liturgischen Gewändern nachweisbar, beispielsweise am Fragment eines Manipels des hl. Ulrich in St. Ulrich und Afra zu Augsburg, am Zingulum Bischofs Witgarius von Augsburg (858–860) im Augsburger Diözesanmuseum oder am Zingulum der Albecunde im Maximilianeum zu Augsburg. Sigrid Müller Christensen stellte solche Arbeiten anlässlich der Augsburger Ausstellung Suevia Sacra 1973 zusammen (Suevia Sacra, S. 51–52, 195–200, Nr. 200–206). Aus dem 12. Jahrhundert sind schließlich auf dem Deckel des Epistolars aus Zwiefalten (Stuttgart, Brev. 121) und auf dem aus Alspach (Elsaß) stammenden Evangeliar (Stuttgart, Bibl. 71) textile Einbände in Seidenstickerei erhalten (Suevia Sacra, Nr. 217–218, Abb. 202–205), die eine Vorstellung von textilen Einbänden des frühen und hohen Mittelalters vermitteln.
Inhaltsangabe:
Inhalt und Schmuck: Die in Klammern gesetzten Zahlen sind die fortlaufenden Nummern der Perikopen.
  • p. 1-3 leer
  • p. 4-24 (Weihnachtskreis 1-17)
    • (p. 4) Titelseite mit ganzseitiger Initiale I(n nomine Dni. in hoc libellulo continentur lectiones Evangelii. Diebus festis recitandae. In vigilia natalis Dni. ad nonam. Seq. sci. Evangelii secundum Matheum. In illo tempore)
    • (p. 5) (1) Zierseite mit großer Initiale C(um esset desponsata), vegetabil, ohne Knotung
    • (p. 8) (3) P(astores loquebantur)
    • (p. 14) (8) Oct. Dni. P(ostquam consumati)
    • (p. 15) (9) Dom. I. p. nat. Dni. E(rat Ioseph et Maria)
    • (p. 16) (10) In Theophania C(um natus)
    • (p. 18) (11) Dom. I. p. Theoph. C(um factus)
    • (p. 19) (12) In oct. Theoph. U(idit Iohannes), das i des (u)i(dit) in das u eingeschrieben
    • (p. 20) (13) Dom. II. p. Theoph. N(uptiae factae)
    • (p. 24) (17) Dom. V. p. Theoph. R(espondens Ihs.)
  • p. 25-52 (Vorfasten- u. Fastenzeit 18-26)
    • (p. 25) (18) Dom. in Septuag. d(ixit Ihs. Simile est regnum caelorum)
    • (p. 30) (21) Dom. in Quadrag. d(uctus est Ihs.)
    • (p. 31) (23) Dom. I. in Quadrag. E(gressus inde), Querstrich in Gold, mitten durchgezogen
    • (p. 37-38) (26) Dom. V. in Quadrag.
    • p. 38 D(ixit Ihs. Scitis quia)

    • (p. 37-52) Matthäuspassion
  • p. 53-79 (Osterkreis 27-44)
    • (p. 53) (27) In sabbo. sco. Pasche U(espere autem), Bogen des U zugespitzt, mit Mittelknoten, fünf Vogelköpfe, Mittelschlaufe des Stammes beringt, ebenso das den zwei inneren Vogelköpfen entwachsende Binnenmotiv, die Buchstaben ESR des U(espere) in den nachfolgenden Zeilen als Initialen, diejenigen des PE(R)E als Majuskeln gestaltet
    • (p. 54-55) (28) Dom. sca. Pasche
    • (p. 55) Zierseite mit großer Initiale M(aria Magdalene et Maria Jacobi), unziales M mit zwölf Hundsköpfen an den Knoten u. Enden, diese in der Mitte zu I des (MAR)I(A) zusammengeführt, in den Binnenräumen die übrigen Buchstaben des (M)AR(I)A, blättrige Ohren der Hundsköpfe
    • (p. 65) (33) Feria sexta U(ndecim discipuli), mit Blattfiederung, im Binnenmotiv Sporangien
    • (p. 67) (35) Dom. oct. Pasche C(um esset sero), den Buchstabenkörper bilden zwei gegenständige Fische mit naturalistischer Binnenzeichnung in Minium
    • (p. 69) (36) Dom. I. p. oct. Pasche d(ixit Ihs. Ego sum pastor bonus), unziale Initiale mit Mittelrosetten u. Blattstaude im Binnenraum
    • (p. 73-74) (39) In inventione sce. Crucis. Erat homo Require in oct. Pent.
    • (p. 75) (41) Dom. IIII. p. oct. Pasche a(men amen dico vobis siquid petieritis patrem)
    • (p. 77-78) (43) In Ascensa Dni.
    • p. 78 R(ecumbentibus), große Initiale mit «gehörntem» Hundskopf, im Buchstabenkörper Rosetten, blättrige, in die Binnenräume wachsende Enden

    • (p. 79) (44) Dom. p. ascensa Dni. C(um venerit paraclitus)
  • p. 80-141 (Pfingsten u. Sonntage nach Pfingsten 45-87)
    • (p. 80) (45) In sabbo. sco. Pent. S(i diligitis me mandata)
    • (p. 81) (46) Dom. sca. Pent. S(i quis diligit me sermonem)
    • (p. 82-83) (48) Dom. oct. Pent.
      • p. 83 E(rat homo), Buchstabenkörper mit Hundskopf u. Vorderläufen, mit denen das Tier eine aus dem Rachen wachsende Ranke umfasst

      • (p. 91) (52) In nat. sci. Johannis Bapt. E(lisabeth impletum), zwei gegenständige Forellen mit Kreisreihen auf dem Rücken, Mittelbalken als symmetrische Blattstaude
      • (p. 94) (54) In nat. sci. Petri apli. U(enit Ihs. in partes Cesareae Philippi), eine Menschenhand hält ein u-förmig auseinanderwachsendes Doppelblatt
      • (p. 98-99) (58) Dom. VIIII. p. Pent.
      • p. 99 A(ttendite a falsis Prophetis), unzialer Buchstabenkörper mit Einrollung in Blattform am oberen Ende

      • (p. 101-102) (61) In nat. sci. Jacobi
      • p. 102 A(ccessit ad Ihm. mater), Buchstabenkörper als Pfau mit zurückgeworfenem Kopf, aus dessen Schnabel ein Blatt als linker Schaft des A wächst, Gold, Silber, Minium u. Grün (voller Farbakkord)

      • (p. 109-110) (66) In Assumptione sce. Marie
      • p. 110 I(ntravit ihs. in quoddam castellum), Initiale in Form einer Säule mit Kreisscheibe in der Mitte

      • (p. 112) (69) In nat. sci. Bartholomei apli. F(acta est contentio), mit Hundskopf
      • (p. 118) (72) In nativitate sce. Marie L(iber generationis), Sporangien mit drei Dornen
      • (p. 121) (73) Dom. XVI. p. Pent. N(emo potest duobus dominis servire), feines Gerank mit Dreiblättern, Kügelchen in Gold an roten Stielen (Verwendung von Zinnober)
      • (p. 124) (75) Dom. XVII. p. Pent. I(bat Ihs. […] . ecce defunctus), Buchstabenkörper als Staude mit seitlichen Dreiblättern
      • (p. 125) (76) Dom. XVIII. p. Pent. C(um intraret Ihs. in domum cuiusdam principis Phariseorum), am Ende des oberen Knotens ein Hundskopf, der in seinen aus dem unteren Knoten wachsenden Schwanz beißt, aus der Bogenmitte kommen die nach oben u. unten in den Bogen des C greifenden Beine
      • (p. 130) (79) In dedicat. basilicae s. Michaelis A(ccesserunt discipuli ad. Ihm.), Initiale als stehender Vogel, aus dessen Schnabel in Form eines Blattzweiges der linke Schaft des Buchstabens wächst, keine Querverbindung (Zinnober)
      • (p. 132) (80) Dom. XX. p. Pent. A(scendens Ihs. in naviculam), Buchstabenkörper ganz vegetabil aus symmetrischem Doppelblatt, oben zusammengeführt u. bekrönt, leichtes Binnenmotiv
      • (p. 139) (85) Dom. XXV. p. Pent. L(oquente Ihu. ad turbas, ecce princeps)
      • (p. 139-140) (86) Dom. XXVI. p. Pent.
      • p. 140 I(interrogavit Ihm. unus de scribis)

    • (p. 141) (87) Dom. XXVII. p. Pent. A(mbulans Ihs. iuxta mare Galilee)
  • p. 141-148 (Adventszeit 88-94)
    • (p. 141-142) (88) Dom. V. ante nat. Dni.
    • p. 142 C(um sublevasset oculos)

    • (p. 146) (92) Dom. I. ante nat. Dni. I(n illo temp. Miserunt Iudei ab Hierosolimis sacerdotes et Levitas)
    • (p. 147) (93) Fer. IIII. I(n illo temp. Missus est angelus Gabrihel)
    • (p. 148) (94) Fer. VI. I(n illo temp. Exurgens Maria)
  • p. 149-179 (Commune sanctorum 95-129)
    • (p. 149-150) (95) In vig. apostolorum
      • p. 150 E(go sum vitis vera), große Einleitungsinitiale zum Commune sanctorum

      • (p. 153-154) (99) In nat. sacerdotum
      • p. 154 I(n illo temp […] Homo quidam peregre)

      • (p. 157-158) (103) In vig. unius confessoris
      • p. 158 I(n illo temp. Nolite arbitrari quia venerim mittere)

    • (p. 167) (112) In nat. plur. scor. S(int lumbi vestri)
    • (p. 170) (115) In nat. plur. mart. E(cce ego mitto vos sicut oves)
    • (p. 177) (121) In nat. virginum S(imile est regnum caelorum thesauro abscondito)
  • p. 180-182 (Kirchweihe 123-124)
    • (p. 180) (123) In dedicatione ecclesiae N(on est arbor bona)
    • (p. 181-182) (124) In dedicatione oratorii I(ngressus Ihs. perambulabat Iericho. Et ecce vir nomine Zacheus)
  • p. 183-184 ursprünglich leer
  • p. 185 oben zwei Zeilen mit den Namen: Bischozisuuir. Lantfrit. Helchin. Ruodolf. Pertker. Ruozeman. Azechint. // Hartman. Iovo. Chuono. Pernhere. Heinric. Priuninc (wohl etwa gleichzeitig mit der Hs.).
Entstehung der Handschrift:
  • Im Verhältnis zu Sang. 367 (Nr. 35) mit 82 Perikopen ist Sang. 54 ein vor allem im Commune sanctorum beträchtlich erweitertes Festtagsevangelistar (124 Perikopen). Der Name «Libellulus» auf der Titelseite p. 4 ist daher eine fast ironische Bescheidenheitsfloskel des Kompilators. Sang. 54 folgt insofern Sang. 367, als er außer den Apostel- u. Erzmärtyrerfesten keine Heiligenfeste enthält. Das Gallusfest ist daher nicht zu vermissen.
  • Der Hauptschreiber gehört zu den Groß-I-Schreibern um Folchart (vgl. Nr. 97, 100, 102). Entsprechend verhält es sich mit der Initialornamentik, die jedoch gegenüber dem Folchart-Psalter u. Morgan 91 (Nr. 97, 100) gleichsam neue Welten entdeckt. Ausgangspunkt ist die barocke Phase Folcharts, die der Illuminator von Sang. 54 aber in neue, vegetabilisch andere u. naturnähere Formen bringt. Damit verbunden ist manchmal ein Buchstabenspiel (Maria, p. 55) von außergewöhnlicher Kompositionslust. Auch die Variationen der Vögel- u. Hundsköpfe an den Initialen, etwa die an ein Geweih erinnernden Ohren des Kopfes am R(ecumbentibus) p. 78, passen zu dieser Spielerei mit dem alten Repertoire. Die Liebe des Künstlers zur Natur trägt Früchte mit den Regenbogenforellen im C(um esset) p. 67 sowie E(lisabeth) p. 91, mit dem Pfau des A(ccessit) p. 102 oder mit dem Singvogel des A(ccesserunt) p. 130, aber auch mit der Menschenhand, die zwei das U(enit) p. 94 bildende Blätter wie einen Blumenstrauß darbringt, oder dem vollkommenen Buchstabengewächs des A(scendens) p. 132. Schließlich weiß er mit dem I(ntravit) p. 110 auch die Architektur zu zitieren (wie Landsberger, S. 38, sah, ein griechisches Zitat) u. sie in den Formenschatz der Initialen zu integrieren (vgl. Nr. 108). Ab p. 118 erhält diese Kunst etwa mit dem L(iber generationis) p. 118 neue Impulse. Der Künstler setzt Zinnoberrot ein, bildet feines Gerank mit Goldtrauben oder Dreiblättern u. Goldkugeln. Einige Formen aus der Wolfcoz-Zeit (Sang. 367 - Nr. 35) wie der embrionale Hund oder Drachen leben im C(um) p. 125 wieder auf, entsprechend beobachtet man in der Schrift wieder offenes a (p. 101). Die Verwendung von leuchtendem Grün an den großen Initialen spricht schließlich dafür, dass die Hs. vor dem Evangelium longum (Nr. 108), das bedeutet vor 895, entstand.
  • Die wohl vom ursprünglichen Einband stammende Goldborte mit dem Namen GUNDIS kann möglicherweise mit einer Stifterin (vgl. Amata in Sang. 53 - Nr. 108) in Zusammenhang gebracht werden. Zum Kreis der Stifterin gehören vielleicht auch die namentlich genannten Personen auf p. 185.
Bibliographie:
  • Scherrer, S. 25.
  • Rahn, Geschichte der bildenden Künste in der Schweiz, S. 144.
  • Merton, S. 52f., Taf. XLIV-XLV.
  • Landsberger, Folchart-Psalter, S. 15, 17f., 21, 23, 25, 38, Abb. 9 d, 22.
  • Bruckner III, S. 61, Lit., Taf. XXIX.
  • Knoepfli, Kunstgeschichte I, S. 31.
  • Schmuki, in: Cimelia Sangallensia, Nr. 46.
  • von Euw, in: Kloster St. Gallen, S. 189, Abb. 88.