Utopia, armarium codicum bibliophilorum, Cod. 110
Ina Nettekoven: Ein Pariser Stundenbuch mit ikonographisch extrem ausgefallenen Miniaturen vom Meister Karls VIII. In: Leuchtendes Mittelalter Neue Folge VI. - 35 Stundenbücher aus Paris und den französischen Regionen im 15. und 16. Jahrhundert, Nr. 23, Antiquariat Bibermühle, Kat. 61 (2009), H. Tenschert (Hg.), 384-401.
Handschriftentitel: Stundenbuch Horae BMV für den Gebrauch von Paris.
Entstehungsort: Paris
Entstehungszeit: um 1495-98. Meister Karls VIII.
Beschreibstoff: Pergament
Umfang:
148 Blatt
Format: Oktav (180 x 125 mm).
Lagenstruktur: gebunden in Lagen zu acht Blatt, davon abweichend die zweite Kalenderlage 2(4), die um ein Blatt ergänzte Lage 5 (8+1) und die um das leere Endblatt beraubte Lage 10 (8-1), 11 (4).
Zustand: Erhaltungszustand sehr frisch, Illumination nicht ganz vollendet.
Seiteneinrichtung:
Zu 16 Zeilen, im Kalender zu 16, auf der jeweiligen Eingangsseite zum Monat 17 Zeilen, regliert in Rot. Textspiegel: 104 x 67 mm
Schrift und Hände:
- in schwarzer Bastarda, mit blauen Rubriken.
- Schrift und Schriftdekor
Dieses Stundenbuch ist in einer recht ungewöhnlichen Variante aus der Familie der Bastardschriften geschrieben. Die Formen erinnern an die im deutschen Buchdruck übliche Gotico-Antiqua, sind markant gebrochen, zugleich aber von einer rundlichen Grundstruktur. In ihrer freien Ausgestaltung, vor allem bei den Versalien wirken die Buchstaben wie Vorboten der Fraktur. Es würde sich lohnen, die kleine Gruppe von Stundenbüchern zu untersuchen, die in derselben Schrift, offenbar in Paris und offenbar im direkten Umfeld von hoch qualifizierten Druckern geschrieben wurden. Interessanterweise stammt ausgerechnet eine Stundenbuchhandschrift, die vom selben Buchmaler und mit ähnlich reichem Bordürendekor ausgestattet wurde, vom gleichen Schreiber: Ms. 1881 aus der Réserve der Bibliothèque de l’Arsenal.
Buchschmuck: 27 Miniaturen (mit 30 unterschiedlichen Szenen), darunter achtzehn große, teils blattfüllende Bilder, drei, die in abweichenden Größen jeweils unter den Text gesetzt wurden sowie sechs kleine Beiszenen in den Bordüren, die das Geschehen im Hauptbild näher kommentieren. Für die Bordüren um die Textseiten war je eine Szene an der Außenseite und im Basde-page vorgesehen, die ebenfalls vom Miniaturenmaler ausgeführt werden sollten. Davon sind drei gänzlich und eine teilweise fertiggestellt, der Rest blieb unvollendet. Initialen mit Goldbuchstaben auf blauen und braunen, selten auf rostroten Gründen mit weißer und goldener Zier: Psalmenanfänge zweizeilig, bisweilen mit kleinen Insekten oder Pflanzenornamenten; Psalmenverse einzeilig; Zeilenfüller derselben Art oder als goldgehöhte Knotenstöcke ausgeführt. Versalien nicht hervorgehoben.
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Die Bildfolge
Die Bebilderung dieser Handschrift löst sich entschieden von wesentlichen Charakteristika der französischen Buchkunst des späten Mittelalters: Gerade Stundenbücher – dafür ist dieser Katalog ein Musterbeispiel – hielten sich in der Regel an klare Vorgaben, wiederholten bestimmte Bildzyklen verläßlich und folgten auch bei der Zumessung von Bildgelegenheiten strengen Vorgaben. In der französischen Buchillustration jener Zeit wurden eigentlich nur Anfänge, Incipits, durch Bilder hervorgehoben. Deshalb erstaunen Miniaturen in Restfeldern unter auslaufenden Texten. Das gilt um so mehr, wenn durch sie Motive doch noch ins Buch kommen, die eigentlich an anderer Stelle ihren Platz gehabt hätten, dort aber von einer kühneren Konzeption zur Bebilderung verdrängt worden waren. Das ist hier beispielsweise der Fall mit Johannes auf Patmos, der nach der Markus-Perikope noch einen Platz findet, nachdem man seine eigene Perikope mit drei inhaltlich besonders weitreichenden Bildern besetzt hatte. Mit aller Vorsicht mag man sich an einer solchen Stelle daran erinnern, daß es in lombardischen Handschriften der Zeit um 1400 wie dem Visconti-Stundenbuch der Nationalbibliothek in Florenz zu ähnlich ausgestatteten Textenden kommt.
Ungewohnt ist neben diesem Spezifikum der „Textausgangsbilder“ auch die variantenreiche Mise-en-page, oder wie man moderner sagen würde, das Layout der Texteingangsbilder. Da gibt es zum einen den für das französische 15. Jahrhundert ganz traditionellen Fall der Miniatur im Rundbogen (analog zu den Dimensionen des Textspiegels) über einigen Zeilen Text – hier sind es zwei bzw. drei – den wir bei der Verkündigung, der Geburt und dem Gastmahl in Emmaus vorfinden.
Rechteckig und die gesamte Höhe und Breite des Blatts einnehmend, zusätzlich am linken Außenrand mit einem breiten gotischen Architekturrahmen in camaïeu d’or versehen, ist die Marienminiatur zum Obsecro te angelegt. Die thronende Madonna mit Engeln im oberen Teil des Bilder ist von der Gruppe musizierender Engel im unteren formal durch ein dreizeiliges Schriftfeld geschieden. Den klassischen Fall von inhaltlich unterschiedlichen Bildthemen im Hauptbild und im Bas-de-page findet man im Bild zur Marienkomplet, im Davidsbild und bei der Matutin des Toten-Offiziums. Hier ist das Incipit in Gold und Rot als Teil des gemalten Bildrahmens zwischen die Szenen gesetzt.
Auf die gleiche Weise behandeln die übrigen ganzseitigen Bilder zum Marien-Offizium die Incipits, allerdings werden sie hier unten auf den Rahmen geschrieben. Ganz ohne Text kommt die prächtig gestaltete Doppelseite zur Matutin des Marien-Offiziums aus, die die Wurzel Jesse zeigt. Ebenfalls ohne Incipit, wenn auch nicht gänzlich textlos zeigt sich der Auftakt zu den Perikopen, der illustriert, wie das Wort Gottes sich inkarniert.
Außergewöhnlich ist auch die Verteilung der Bilder auf Recto und Verso: Überall im westlichen Europa war man derartig an die Incipit-Bebilderung gewöhnt, daß man sich entweder darauf beschränkte, ein Bild direkt über dem Textanfang zu schalten oder ein textloses Bild dem Incipit gegenüberzustellen. Dann allerdings in Frankreich wie in den Niederlanden gehörte das Bild auf Verso, der Textanfang auf Recto. Hier hingegen kommt es, wiederum bei den Perikopen und auch anderswo, vor, daß die große Miniatur auf Recto erscheint und damit gar kein Konnex zum Text auf den ersten Blick erkennbar wird.
fol. 13: Zu den Perikopen werden die Inhalte verbildlicht, auf Evangelistenbilder ist verzichtet: Der Johannestext wird besonders betont durch ein textloses Bild des Göttlichen Ratschlusses (fol. 13): Gottvater thront auf einem Regenbogen, goldene, seinem Mund entströmende Strahlen bilden die Worte: Verbum Caro Factum Est (Joh. 1,14), zu seinen Füßen thront Anna, die Mutter Mariens; durch ihren Schleier ist die Dargestellte als ältere, verheiratete Frau gekennzeichnet, insofern kann es sich nicht um Maria handeln, in deren unberührtem Leib, der jungfräulich empfangen hatte, sich Gottes Wort als Jesus Christus inkarniert. Rechts und links von Anna stehen zwei Propheten mit Spruchbändern, einer der beiden ist vermutlich Iesaia, der die jungfräuliche Empfängnis weissagt (Ies. 7,14).
Erst auf fol. 13v folgt dann die Johannesperikope mit zwei Szenen aus der Genesis: Die Erschaffung der Fische und die Erschaffung der anderen Tiere. Vermutlich wollte man die folgenden Textseiten so mit je zwei Bildfeldern versehen, daß in der gesamten Lage die Geschichte der Genesis bis zur Vertreibung aus dem Paradies, die sich auf fol. 20 findet, dargestellt werden sollte.
Für einen routinierten Stundenbuchbenutzer höchst verwirrend beginnt die Lukasperikope auf fol. 15 mit der Marienverkündigung, die man zur Matutin des Marien-Offiziums erwarten würde. In der Bordüre begleiten zwei kleine Miniaturen mit einer Hirtenszene, die sowohl als Verkündigung an die Hirten, als auch – wenn man den Kuß an der Goldenen Pforte im unteren Teil der Bordüre in Anschlag bringt – als Joachim bei den Hirten interpretiert werden könnte.
Zur Evangelienlesung aus Matthäus „Cum natus esset ihesus in bethlehem“ (fol. 17) steht eine Miniatur mit der Anbetung des Kindes. Dies ist nicht nur überraschend, weil dieses Sujet normalerweise zur Prim des Marien-Offiziums steht, sondern auch, weil der Maler ein – in der Stundenbuchillustration gänzlich unübliches – Prinzip anwendet, das mit dem dargestellten Sujet getreu auf das eingeht, was im Text beschrieben wird. In einer flämisch inspirierten Komposition, die man in Paris schon gut vom Coëtivy-Meister und vom Apokalypsenmeister kennt, kniet der Ziehvater Joseph bei dem Kind und beschirmt eine Kerze. Begleitet wird das Hauptbild durch zwei Szenen in der Bordüre, das Treffen der Könige und die Anbetung der Könige und damit – da der Text von den Weisen aus dem Morgenland berichtet – zu einem Epiphanias-Bild erweitert.
Zur Markussequenz (fol. 19) finden wir eine Abendmahlszene, die aber Christus als Auferstandenen bei seinen tafelnden Jüngern zeigt. Anders als in traditionellen Emmaus-Bildern, ist Christus nicht als Pilger dargestellt, sondern sofort an seiner Kreuz standarte, seinen Stigmata und seinem umgeschlungenen Grabtuch als Auferstandener zu erkennen. Interessant und ebenfalls von der klassischen Ikonographie abweichend ist die Darstellung des ungläubigen Thomas, der Christus am nächsten, aber in skeptisch-ablehnender Haltung dasitzt, jedoch noch nicht den Finger in die Seitenwunde des Erlösers gelegt hat. In Medaillons gibt es eine Küchenszene und das Noli me tangere. Die Zubereitung der Speise erinnert an das makabre Kinderbraten aus Flavius Josephus; bereitet wird hier aber zweifellos ein Geflügelspieß. Wahrscheinlich sind mit dem etwas derb dargestellten Paar im Bas-de-page der Herbergsvater und seine Frau gemeint, die dabei sind, für die große Runde im Hauptbild das Mahl zu bereiten.
Auf fol. 20 steht ganz und gar außergewöhnlich für eine spätmittelalterliche Buchillustration unter vier Zeilen Text eine große rundbogige Komposition mit Johannes auf Patmos mit dem Adler. Getreu schreibt der Lieblingsjünger in das aufgeschlagene Buch auf seinen Knien, was er in seinen Visionen sieht. Uns, die Betrachter der Miniatur, läßt der Maler daran teilnehmen, indem er hinter dem Evangelisten das siebenköpfige Tier aus der Apokalypse auftauchen läßt, dessen einen geschwungenen Hals er geschickt als seitliche Vollendung des gebogenen Bildabschlusses verwendet. Somit wird das apokalyptische Tier auf der linken und der Adler auf der rechten Seite Teil der Bordüre. Das finale Bild der Perikopen ist ein Autorenbild nach traditionellem Muster. Dadurch, daß der Maler es hier mit der Vertreibung aus dem Paradies in der Bordüre unten verbindet, die wohl einerseits den – nicht vollendeten – Schöpfungszyklus beschließen sollte, findet er andererseits einen hochintelligenten theologischen Konnex zwischen Anfang und Ende der Welt.
fol. 20v: Zum Obsecro te steht eine prachtvolle große Miniatur der thronenden Maria mit musizierenden Engeln; durch ein dreizeiliges Schriftfeld mit einer historisierten Initiale, die das Portrait Gottvaters zeigt, wird diese Komposition in Hauptbild und Bas-de-page unterteilt.
fol. 24v: Das Marien-Offizium ist mit einen sehr ungewöhnlichen und vom Usus komplett abweichenden Bildzyklus versehen: Statt mit einem Verkündigungsbild eröffnet die Marien-Matutin mit einer doppelseitigen und gänzlich textlosen Darstellung der Wurzel Jesse (fol. 40), die in einer Darstellung der Jungfrau Maria (interessanterweise ohne Kind) gipfelt.
Zu den folgenden Stunden finden sich Szenen aus dem Wirken Jesu und aus der Kindheitsgeschichte in zeitlichen Sprüngen und Brüchen, also nicht in nachvollziehbarer chronologischer Ordnung:
Ein Bild von Jesus mit der Ehebrecherin (fol. 36), die mit niedergeschlagenen Augen in der rechten Bildhälfte in einer Gruppe von Männern steht, die sie festhalten, eröffnet die zweite Stunde. Jesus steht links und weist mit der Hand auf denjenigen, der sich anschickt Steine aufzusammeln, um die Sünderin hinzurichten. Oben im goldfarbenen Gebälk des gemalten Bildrahmens finden wir seine mahnenden Worte: Qui sine peccato est vestrum primus in illam lapidem mittat. Ebenfalls in den Rahmen, aber in den unteren Abschluß placiert der Maler das Incipit der Laudes.
Auf fol. 36v findet sich eine der wenigen Kompartimentbordüren, in der begonnen wurde, die Bildfelder auszufüllen: links außen mit einem grotesken Halbwesen, das eine Laterne trägt und im Bas-de-page und mit einem – nicht mit Farbe ausgefüllten – Drachenpaar, das nur in der Vorzeichnung ausgeführt ist. So bedauerlich es natürlich ist, daß ein solch verschwenderisch angelegtes Werk nicht vollendet wurde, so aufschlußreich sind diese halbvollendeten Passagen für die Buchforschung in Hinblick auf die damalige Arbeitsweise. Ganz offensichtlich hat der eigentliche Bordürenmaler nach Vereinbarung mit dem Meister Karls VIII. die Felder für die figürlichen Motive ganz freigelassen. In die jeweiligen rechteckigen Aussparungen setzte der Miniaturenmaler schließlich seine Vorzeichnungen. Ob dann er selbst oder wiederum der Bordürenmaler den ornamentalen Hintergrund ausführte, kann natürlich nicht mit abschließender Sicherheit bestimmt werden, doch entspricht der Hintergrund der Figuren auf fol. 36v so exakt in Farbe und Muster der bereits vorhandenen Bordüre, daß die Vermutung nahe liegt, daß die beiden Maler ganz eng Hand in Hand arbeiteten und die Handschrift vermutlich vor ihrer Vollendung mehrfach zwischen den beiden Künstlern hin und her gereicht wurde.
fol. 46 bereitet in einer fast quadratischen Miniatur unter dem Textende der Laudes den Auftakt zur Prim vor: Petrus und ein zweiter Apostel holen die Eselin mit ihrem Füllen für die Ankunft Jesu am Palmsonntag. Der eigentlich Einzug in Jerusalem folgt nun auf fol. 46v. Im unteren Part des Rahmens findet sich wiederum das Incipit zur Prim.
Zur Terz auf fol. 52 diskutiert der Zwölfjährige Jesus im Tempel mit den Schriftgelehrten. Maria und Joseph stehen (stolz oder betreten?) auf ihren Sohn weisend, am linken Bildrand, während die Pharisäer auf der rechten Seite zu einer dichten Gruppe zusammengeballt sind.
Zur Sext die Transfiguration, also die Verklärung Jesu auf dem Berg Tabor (fol. 55v[56v]); besonders kraftvoll in den Farben und streng in der Komposition. Hier wieder hält sich der Maler an eine klare formale Trennung von Oben und Unten, wie das bereits in der Marienminiatur zum Obsecro Te der Fall war. Christus steht mit ausgebreiteten Armen und golddurchglühtem Antlitz auf dem Hügel. Rechts und links von ihm die alttestamentarischen Propheten Moses und Elias. Im unteren Teil der Miniatur reagieren die von Jesus mitgebrachten Jünger Johannes, Petrus und Jacobus mit erschrockenen Gesten auf das Geschehen. Das Sujet der Transfiguration ist bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, zumal in Stundenbüchern, sehr selten. Doch ist es interessant zu bemerken, daß ausgerechnet die Künstlergruppe um den sogenannten Meister der Apokalypsenrose, der das große Rundfenster an der Westfassade der Sainte-Chapelle gestaltete, dieses Motiv häufiger verwendet. Es ist in den gedruckten Stundenbüchern Teil eines von ihm entworfenen umfangreichen Christuszyklus’ und wird beispielsweise in einer Stundenbuchhandschrift in Chantilly (Ms. 81) als Kleinbild in der Bordüre zu einem Gebet eingesetzt. Der Meister Karls VIII. verwendet es noch ein weiteres Mal in einer Stundenbuchhandschrift, die heute in der Stuttgarter Landesbibliothek aufbewahrt wird (Cod. brev. 5).
Das vermehrte Vorkommen dieses Sujets steht wohl im Zusammenhang mit der ersten erfolgreichen Schlacht gegen die Türken und der Einnahme von Konstantinopel, für die es als Siegeszeichen gedient hatte. Berühmte Beispiele für die Verwendung dieses Motivs sind Giovanni Bellini in Venedig und Gerard David in Brügge.
Zur Non steht die Vertreibung der Wechsler aus dem Tempel (fol. 59v[60v]): ein monumental an den vorderen linken Bildrand gesetzter Jesus schwingt über dem Kopf eine Geißel und schickt sich an, auf einen Wechsler, der Münzen auf seinem Tisch ausgelegt hat und andere Personen, die offenbar Waren bei sich haben, einzuschlagen.
Die Flucht nach Ägypten schließt sich an das Textende der Non auf fol. 63[64r] an, sie bereitet das große Bild zur Vesper, den Kindermord von Bethlehem auf fol. 63v[64v] vor. Sehr typisch für diese Künstlergruppe um den Meister der Apokalypsenrose sind Charaktere wie der Mann, der ganz hinten neben dem Thron des Herodes steht und mit seinen Händen eine abzählende Geste macht. Diese Gebärde findet sich schon beim Coëtivy-Meister; sie ist offenbar ein Symbol für die argumentative Rede. In einem steil ansteigenden Menschenkeil gruppieren sich die Mütter, die um das Leben ihrer Erstgeborenen vergeblich kämpfen und die Soldaten; im Vordergrund eine besonders drastische Szene, in der eine Frau mit verzerrten Zügen einen Soldaten abwehrt, der mit erhobenem Schwert den nackten Körper des hilflos kopfüberhängenden Knaben durchbohren wird.
Zur Komplet (fol. 71[72r]) des Marien-Offiziums steht ein Doppelbild aus Mariä Himmelfahrt und Marientod im Bas-de-page. Das Sujet im Hauptbild weicht insofern von der Norm ab, als gewöhnlich die Krönung Mariens in Anwesenheit der Trinität gezeigt wird. Hier aber fährt Maria auf einer Mondsichel, begleitet von musizierenden Engeln, auf in den Himmel, während ihr Leichnam unten aufgebahrt liegt und von den Aposteln betrauert wird.
fol. 77: Die Bußpsalmen eröffnen mit einer ungewohnten Version von Davids Buße: David zu Pferde, von vier wilden Tieren umgeben, die die vier von Gott zur Auswahl gestellten Plagen symbolisieren. Der Racheengel senkt das feurige Schwert auf den sündigen König herab und macht ihm klar, daß die Stunde der Entscheidung nun unabänderlich da ist. Die personifizierten Plagen sind in der Buchmalerei des 15. Jahrhunderts ein seltenes Motiv, man findet einen eng verwandten Bildvorwurf in den Metallschnitten für die Grandes Heures des Verlegers Anthoine Vérard und wiederum im Stundenbuch der Landesbibliothek Stuttgart. Der Meister der Apokalypsenrose wiederum hat eine vergleichbare Lösung gefunden in Ms. 81 in Chantilly, hier allerdings sind die Plagen keine Tiere, sondern vier Menschen.
In einem zweiten Bildfeld im Bas-de-page der vorliegenden Miniatur sehen wir, auf welche Weise der König bei Gott in Ungnade fiel: die schöne Bathseba sitzt mit geschürzten Gewändern am Brunnen, während König David sie wohlgefällig mit verschränkten Armen beobachtet. Diese beiden Bildfelder trennt im Goldrahmen die abschließende Gebetsformel: gloria patri et filio et spiritui sancto sicut, aber hier bricht der Text ab und auf 77v folgt dann mit Domine ne in furore tuo arguas me der eigentliche Beginn der Bußpsalmen, bei dem zu allem Überfluß auch der erste Initialbuchstabe D nicht eingetragen wurde. Die Wahl der Bildinschriften in diesem Manuskript ist in der Tat eher enigmatisch. Meist stehen in den Rahmen die Textanfänge und in den meisten Fällen hat der Schreiber sich darauf eingestellt, daß die Incipits in die Miniaturen integriert wurden, doch hier hat er offenbar nicht gut aufgepaßt und so mußte der Miniaturenmaler auf einen eher formelhaften und nicht sehr passenden Text für seine Bildinschrift zurückgreifen.
Nun folgt aber auf fol. 99 die eigentliche Überraschung, wenn man die Liebesgeschichte von David und Bathseba und ihre dramatische Entwicklung kennt. Ausgerechnet zum Toten-Offizium wohnen wir der Szene bei, in der Bathsebas Gemahl Uriah, auf Davids Geheiß in den ersten Reihen des Schlachtgetümmels getötet wird. Kenner des Stundenbuchdrucks kennen das Bild gut, es ähnelt stark einem Metallschnitt des Meisters der Apokalypsenrose, der um 1498 für den Verleger Simon Vostre fertiggestellt wurde. Aber – und das ist das Verblüffende – dieser Uriah-Tod in den gedruckten Stundenbüchern wird ausschließlich zu den Bußpsalmen verwendet und hier ist es plötzlich das Eingangsbild zum Toten-Offiz. Also: zuerst wird gesündigt und dann wird gestorben. Das, so will uns scheinen, ist wiederum ein Zeugnis für die Klugheit und die differenzierte Auffassungsgabe unseres Malers, der sich stilistisch sicher nicht mit den großen Illuminatoren des ausgehenden 15. Jahrhunderts vergleichen kann. Aber kaum einer seiner Zeitgenossen wählt seine Motive so scharfsinnig und paßt die Sujets den begeleitenden Texten an. Es scheint ein Maler gewesen zu sein, der mühelos des Lesens mächtig war, überdies einer, der sich theologisch auskannte, ein homo doctus also. Einer, überdies, den man als Illuminator nicht an jeder Ecke findet, der es sich jedoch nicht nehmen ließ, prestigeträchtige Aufträge eigenhändig – und komplett! – alleine auszuführen. Warum also nicht vielleicht der Verleger? Ein Gedankenspiel, das man sich vielleicht, wenn man den Maler eines Tages besser kennt und sein Œuvre genauer eingrenzen kann, nochmals vornehmen und der alten, seit über 100 Jahren ungelösten Frage nachgehen sollte, ob Anthoine Vérard nicht nur Schreiber und Verleger sondern vielleicht auch Illuminator gewesen ist.
Es bleibt jedoch nicht nur beim Uriah-Tod zur Vesper, denn auch die Matutin (fol. 107) erhält ein Bild: In der um 1500 in Paris und Rouen aufkommenden Bildtradition wird aus dem Gleichnis vom Reichen und dem armen Lazarus noch nicht – was später häufiger der Fall ist – das Gastmahl des reichen Prassers gezeigt, sondern der Ertrag seines unbarmherzigen Tuns im Jenseits: qualvoll darbend liegt er im Höllenfeuer (placiert im Bas-de-page), von Teufeln gepeinigt und zeigt auf seinen immerdar dürstenden Mund. Der arme aussätzige Lazarus aber, den der Reiche seinerzeit von seiner Tafel verjagen und elendiglich auf seiner Schwelle verschmachten ließ, sitzt als kindliche Seele getröstet in Abrahams Schoß. Auch diese Konzeption findet sich besonders häufig im Umfeld des Apokalypse-Meisters, in den Très petites Heures der Anne de Bretagne und in Chantilly Ms. 81, aber auch in einer besonders schönen und drastischen Darstellung in unserer Nr. 14.
Auf fol. 107v sind zwei Bilder kursorisch vorgezeichnet, aber dann nicht ausgemalt. -
Das Verhältnis zu gedruckten Stundenbüchern
Aus dem Jahr 1485 datiert das früheste bekannte gedruckte Stundenbuch in Paris; es stammt – wie sollte es anders sein – aus der Offizin des einflußreichen Pariser Verlegers Anthoine Vérard. Sein Name fiel in der Beschreibung dieser Stundenbuchhandschrift bereits mehrfach und zwar unter anderem, weil in seinen Stundenbuchgraphiken motivische Besonderheiten auftauchen, die sich hier in dieser Handschrift wiederfinden.
Vérard ist für die heutige Buchforschung der Inbegriff für die Vereinigung von Druck- und Handschriftenwesen unter einem Dach: In seinem Atelier wurden nicht nur gedruckte und mit gemaltem Schmuck versehene, sondern auch weiterhin geschriebene Bücher von großer Pracht und großem Reichtum angefertigt. Solche Zimelien verfertigte Vérard unter anderem für das Königshaus (vgl. unsere Nr. 23a in diesem Katalog) und für vermögende Angehörige des Hochadels. Zu Recht vermutet man hinter den zahlreichen Prachtcodices, die Vérards librairie als Geschenke und Dedikationsexemplare verließen, Investitionen, die dem hauptsächlichen Ziel dienten, Förderer und Mäzene für seine kostspieligen Großprojekte zu finden.
Das vorliegende Andachtsbuch reagiert mit der beabsichtigten (leider nicht vollendeten) Vielgestaltigkeit seiner Bordüren auf den Pariser Stundenbuchdruck, der die Sehnsucht nach Bildern des spätmittelalterlichen Lesers erfüllte. Die Bilderfülle der Inkunabeln mußte die Handschriftenproduktion erwidern, wollte sie nicht vom Buchdruck übertrumpft und verdrängt werden. Für wen dieses schöne und ikonographisch gänzlich aus dem Rahmen fallende Buch gedacht war, kann man leider nicht mit Bestimmtheit sagen, da die Hinweise auf einen frühen Besitzer fehlen. Es reagiert allerdings mit einigen seiner Bildvorwürfe auf das in der folgenden Nummer beschriebene Stundenbuch für König Karl VIII. So haben wir im Stundenbuch für den König auf fol. 19 zur Markusperikope eine kleine, in den Text gesetzte Darstellung eines Abendmahls, bei dem der wiederauferstandene Christus zugegen ist. Diese etwa 11 Zeilen hohe Miniatur, ist die spiegelbildliche Wiederholung unserer großen Miniatur auf fol. 19 (!) hier ebenfalls zur Markusperikope, aber eben formatfüllend. Allerdings fehlt in der kleinen Miniatur des Stundenbuchs für Karl VIII. das anekdotische Detail des Skeptikers, in dem wir den Apostel Thomas zu erkennen glauben. Was also, wenn der Besitzer des Stundenbuchs Nr. 23a (also in dem Fall der König Frankreichs) dem Werkstattleiter einen Auftrag gab, in dem er bestimmte, ihm besonders erwünschte Motive in einer zweiten Stundenbuchhandschrift als Hauptbild wiederkehren zu lassen?
Zumindest lassen die Abweichungen von der ikonographischen Norm den Schluß zu, daß die vorliegende Handschrift nicht isoliert, sondern vielleicht als Ergänzungsband zu einem anderen Gebetbuch benutzt wurde. -
Zum Stil
Den Maler aller Miniaturen nennt man nach jenem Stundenbuch, das wir bereits 1989 in unserem Katalog Leuchtendes Mittelalter I vorgestellt haben und das in der folgenden Nr. 23a noch einmal summarisch gewürdigt wird. Da der französische König Karl VIII. dort seinen eigenhändigen Namenszug hinterlassen hat, spricht man heute vom Meister Karls VIII. Andere Stundenbücher von seiner Hand sind der in der Stuttgarter Landesbibliothek befindliche Cod. brev. 5, ferner das Horarium Ms. 1881 in der Bibliothèque de l‘Arsenal in Paris. Auffällig an allem, was wir von diesem Maler kennen ist, daß er seine Arbeiten stets sehr verschwenderisch dekoriert und eine Tendenz zu ikonographischen Besonderheiten hat. Sein Stil steht dem eines anderen Buchmalers nahe, dessen Hand man vor allem aus gedruckten Stundenbüchern kennt, namentlich aus den Dedikationsminiaturen in individuell ausgestatteten Handschriften aus Vérards Offizin (zum Beispiel einem Gebetbuch für die Schwester Karls VIII., Anne de Beaujeu und einem vergleichbaren Stück für Charles d‘Angoulême in New York) und den man deshalb den Meister der Dedikationsminiaturen Vérards getauft hat.
In den Bildvorwürfen des Meisters Karls VIII. erkennt man die Nähe zum Atelier des Meisters der Apokalypsenrose, was nicht verwundert, wenn man sich vergegenwärtigt, daß auch dieser intensiv und überaus produktiv für die Pariser Buchdrucker um 1500 tätig war. Insofern dürften seine Entwürfe in der Hauptstadt kursiert haben. Wir wissen aber auch, daß der Meister der Apokalypsenrose bisweilen mit einem anderen großen Pariser Buchmaleratelier kollaborierte, das ebenfalls für Vérard Inkunabeln illuminierte: es handelt sich um die Werkstatt des Meister des Jacques de Besançon, dem der Meister Karls VIII. in mancher Hinsicht ebenfalls verwandt ist.
Einband:
Gebunden in einen roten Maroquin-Einband des 18. Jahrhunderts, der wie ein Einband des 17. mit Goldprägung und sichtbaren Bünden gestaltet ist.
Hauptsprache: Lateinische und französische Handschrift
Inhaltsangabe:
- fol. 1: Kalender in lateinischer Sprache, fast jeder Tag besetzt, einfache Tage in Schwarz, Feste und Goldene Zahl in Rot; Sonntagsbuchstaben A als Gold-Initialen abwechselnd auf braunroten und blauen Gründen, b-g in schwarzer Tinte; die Kürzel der römischen Tageszählung abwechselnd schwarz und rot. Das Kalenderformular gibt einige Rätsel auf, denn die Heiligenauswahl ist eher unspezifisch, beruht aber anscheinend nicht auf einem Pariser Vorbild, da die typischen hauptstädtischen Heiligen Dionysos und Geneviève fehlen. Im übrigen gibt es einige für Nordfrankreich typische Heilige, und einige ganz und gar ungewöhnliche, wie zum Beispiel „Gordon“ zum 10. Januar, der tatsächlich Gundisalvius heißen müßte und in Porto und Amaranth verehrt wird. Schließlich einige, über deren Existenz bisher Unklarheit herrschte, darunter ein gewisser „Lerronis“ zum 14. Januar, der in keinem der gängigen Heiligenverzeichnis vermerkt ist. Da der Kopist allerdings zu orthographischen Unsicherheiten tendiert, in deren Folge er gerne mal eine Emerantiane zur Temerantiane und einen Adalbert zum Madalbert umtauft, könnten unauffindbare Heilige einfach nur auf eine individuelle Graphie des Schreibers zurückzuführen sein. Interessant ist an diesem Kalender, daß er ganz ohne Bordüren und Bilder auskommt, ganz im Gegensatz zu anderen bekannten Stundenbüchern dieses Meisters.
- fol. 13: Perikopen:
- fol. 24v: Marien-Offizium für den Gebrauch von Paris:
- fol. 77: Bußpsalmen mit Litanei (fol. 92); die Heiligenauswahl stärker auf Paris ausgerichtet als der Kalender; alle wichtigen Pariser Patrone sind erfaßt.
- fol. 99: Toten-Offizium für den Gebrauch von Paris:
- fol. 149: Unvollendetes Mariengebet O intemerata : die Recto-Seite leer; für ein ganzseitiges Bild vorgesehen, das den Textanfang im Rahmen erhalten sollte; fol. 149v[147v] setzt dieser Text in Schrift und Bordüren wie Buchblock mit dem Wort singularis fort; die Worte „intemerata et in eternum benedicta” sind auf Recto nie ausgeführt worden; fol. 152v[149v] mit Textende des O intemerata.
Entstehung der Handschrift:
- Eine formal wie inhaltlich aufsehenerregende Handschrift, die ursprünglich als Prachtcodex mit Hunderten von Miniaturen in den Bordüren konzipiert war, jedoch in der Randzier weitgehend unvollendet blieb. Dieses Buch könnte beispielsweise ein für den König Karl VIII. in Auftrag gegebener Ergänzungsband zu dessen persönlichem Stundenbuch gewesen sein (vgl. Nr. 23a). Sicher wurde es ebenfalls unter der Aegide des Anthoine Vérard hergestellt
- Ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Codex, der eine erstaunliche Bilderfülle kombiniert mit ikonographischer Vielfalt und einer überraschenden mise-en-page. Ein verlegerisches Kunststück, das vermutlich für einen gesellschaftlich hochangesehenen Auftraggeber bestimmt war. Auf die Frage, wieso das Buch nicht vollendet wurde, gibt es keine befriedigende Antwort, ich gebe allerdings im Zusammenhang mit unserer These, es könnte eine Ergänzung zu unserer Nr. 23a gewesen sein, zu bedenken, daß Karl VIII. ganz überraschend mit 28 Jahren im Jahr 1498 an den Folgen eines Unfalls in Schloß Amboise verstarb.
Provenienz der Handschrift: Keine Hinweise auf frühe Besitzer. Adams sale, 7.12.1931, Nr. 114, verkauft an Maggs. Maggs Kat. 600, 1934, Nr. 120, mit Abbildung.
Literatur
- Der Codex war der Forschung bislang unbekannt.
Zum Meister Karls VIII:
- Heribert Tenschert (Hrsg.): Leuchtendes Mittelalter I, 1989. Nr. 62.
- Ausst.Kat. Mittelalterliche Andachtsbücher, Karlsruhe 1992. Nr. 26, zum Stuttgarter Codex brev. 5.
- Heribert Tenschert (Hrsg.) und Ina Nettekoven, Horae B.M.V. - 158 druckte Stundenbücher Paris 1490-1550, Bibermühle 2003.
- Ina Nettekoven, Der Meister der Apokalysenrose der Sainte-Chapelle und die Pariser Buchkunst um 1500. Turnhout, 2004.