Kurzcharakterisierung:Die reich illustrierte Handschrift der Weltchronik des Rudolf von Ems entstand in den 1340er Jahren, vermutlich in Zürich (in der gleichen Schreiberwerkstatt wie das Statutenbuch des Zürcher Grossmünsters von 1346). Das Bildprogramm ist mit der ca. 40 Jahre früher ebenfalls in Zürich entstandenen und heute in St. Gallen aufbewahrten Weltchronik-Handschrift (Vadianische Sammlung Ms. 302) eng verwandt. Die Handschrift Ms. Rh. 15 kam 1863 aus der aufgehobenen Klosterbibliothek Rheinau nach Zürich.(wal)
Standardbeschreibung: Beschreibung von Martin Roland, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, 2019.
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Online seit: 29.03.2019
Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. 15
Pergament · 239 ff. · 33-33.5 x 22.5-23 cm · Zürich · um 1340/50
Rudolf von Ems, Weltchronik
Wie zitieren:
Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. 15, f. 78r – Rudolf von Ems, Weltchronik (https://www.e-codices.ch/de/list/one/zbz/Ms-Rh-0015)
Martin Roland, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, 2019.
Handschriftentitel: Rudolf von Ems, Weltchronik
Entstehungsort: Zürich
Entstehungszeit: um 1340/50 (1340er Jahre)
Beschreibstoff: Pergament
Umfang:
239 Blätter
.
Format: 330–335 x 225–230 mm
Seitennummerierung: moderne Zählung; ältere Paginierung bei leeren Seiten unsystematisch
Lagenstruktur:
(IV–3)5 +(IV+1)14 + IV22 + (IV+1)31 + (IV+3)42 + (IV+2-1)51 + (IV+1)60 + 5.(IV+2)110 + (IV+3)121 + (IV+1)130 + (IV-1)137 + 11.IV225 + (IV-1)232 + (IV-1+1)240
Lagenbezeichnungen:
Von fol. 60v (VII) bis fol. 232v (XXVII) teilweise beschnittene Kustoden verso unten auf dem jeweils letzten Blatt der Lage; die Kustode fol. 121v fehlt. Mit dem letzten Blatt der letzten Lage (nach fol. 239) wurde wohl auch die Kustode entfernt.
Hinzugefügte Einzelblätter mit Miniaturen:
Foll. 6, 28, 32, 37, 40, 45, (nach fol. 48 fehlt eines dieser hinzugefügten Blätter; das Fehlen ergibt sich aus dem Bildprogramm; siehe dort), 54, 63, 67, 74, 78, 85, 87, 95, 99, 102, 105, 112, 117, 119 und 124.
Zustand:
Blattverluste:
Drei Blätter vor fol. 1 fehlen; je ein Blatt nach foll. 133 und 227. Nach fol. 239 fehlt das letzte Blatt der letzten heute noch vorhandenen Lage. Da am Ende deutlich mehr Text fehlt (ohne Illustrationen drei Blätter; siehe bei „Inhaltsangabe“) ist mit einem weiteren Verlust am Ende auszugehen.
Die Blattverluste sind jeweils auch mit Bild- bzw. Textverlust verbunden. (Bei den von Kratzert, Weltchroniken, S. 31, als fehlend angegebenen Blättern nach fol. 72 und 76 handelt es sich nicht um Verluste, sondern bloss um die Fälze der hinzugefügten Blätter 74 und 78.)
Nach fol. 239 wurde wohl im Zuge der Neubindung ein Papierblatt hinzugefügt (fol. 240).
Seiteneinrichtung:
Schriftspiegel 240/250 x 155/160 mm; zwei Spalten mit je 40 abgesetzten Versen
Schrift und Hände:
Textualis für deutschsprachige Texte. Das doppelstöckige „a“ reicht etwas in die Oberlänge; die untere Schlinge des „g“ reicht kaum in die Unterlänge; teilweise „langes s“ am Wortende. Zierschlingen bei auslautendem „t“ und „g“ und auf der Fahne des „r“. Die Kürzungen von „as“ bzw. „az“ sind lokaltypische Schreibgewohnheiten des Ober- bzw. Hochrheins.
Beer, Beiträge, S. 30, vermutet der Schreiber von Rh 15 sei auch für das 1346 datierte Statutenbuch des Züricher Grossmünsters (Zürich, Zentalbibliothek, Cod C 10a) verantwortlich, in dem sich ein Magister Johannes, Kaplan am Grossmünster, als Schreiber nennt. Dies ist zwar durchaus möglich, es finden sich freilich keine charakteristischen Schriftformen, auf die man sich konkret berufen könnte. Marlies Stähli hat eine Identifizierung in einem Gespräch im Februar 2009 bezweifelt. Die Verbindung zum Statutenbuch ergibt sich, unabhängig vom Schreiber, durch die Entsprechung des Fleuronnée-Dekors (siehe unten).
Buchschmuck: Der Buchschmuck von Ms. Rh. 15 besteht aus einem Bildzyklus zur Weltchroniken (100 Miniaturen; Zählung nach Roland, Illustrierte Weltchroniken) und Dekorelementen, die mit der Schrift verbunden sind.
Niederrangiger Dekor:
Die Verse sind abgesetzt geschrieben und beginnen jeweils mit einer rot gestrichelten Majuskel, für die die Reglierung der Seiten eine eigene schmale Spalte vorsieht. Bei kleineren Abschnitten zweizeilige rote bzw. blaue Lombarden mit einfachem Fleuronnée in der Gegenfarbe, wobei bei bei roten Lombarden statt blauem Dekor das Fleuronnée mit violetter Tinte gezeichnet ist. Die Stilformen entsprechen jenen der grösseren Initialen (siehe dort).
Buchstabenkörper:
Zwischen den Farbflächen des Buchstabenkörpers kleinere ornamentale und florale Aussparungen. Auf fol. 154r sind zwei Drachen ausgespart.
Binnenfelder:
Die Binnenfelder sind oft kreuzschraffiert mit Aussparungen und / oder einem Medaillion; die Medaillions können mit Knospen gefüllt sein; foll. 162r, 187v und 190r sind Medaillons eingefügt, aus denen Vögel bzw. Mischwesen ausgespart sind (vgl. die Aussparungen in Medaillons im Randbereich dieser Seiten [siehe unten], auf fol. 154r Medaillon mit ausgesparter Frontalmaske). Fol. 17v wird das Binnenfeld von zwei mit stilisierten Blättern gefüllten Quadraten beherrscht.
Besatzfleuronnée:
Einfaches Besatzfleuronnée aus Begleitlinien und einzelnen fibrillenbesetzten Perlengruppen. Grössere Zwickel sind mit flüchtigem (Knospen-)Fleuronnée gefüllt.
Fleuronnée-Leisten im Randbereich: Von den Initialen gehen Fleuronnée-Leisten aus, die (grosse) Teile des Schriftspiegels umgeben. An den Ecken und den Mitten befinden sich jeweils Medaillions mit Motiven, die aus dem violetten, dunkelgrünen, gelben oder ockerfarbenen Grund ausgespart sind. Es überwiegen einfache meist florale Elemente, selten sind auch zoomorphe Motive ausgespart (foll. 17v, 154r, 162r, 187v, 190r). Höhepunkt des figürlichen Dekors ist ein Männchen, das eine Rolle rückwärts zu vollführen scheint (fol. 162r, unten).
Die roten, blauen und grünen Segmente der Leisten sind an der Aussenseite mit einfachem Besatzfleuronnée besetzt.
Das Fleuronnée wurde, wie bereits Beer, Beiträge, S. 30f., festgestellt hat, von jenem Florator ausgeführt, der auch die Initialen des 1346 datierten Statutenbuches des Züricher Grossmünsters (Zürich, Zentralbibliothek, Cod C 10a) geschaffen hat. Neben dieser schlagenden Handgleichheit verweist Beer auf viele Vorläufer und Parallelerscheinungen zu diesem Züricher Skriptorium und belegt damit dessen lokale Tradition.
Bildprogramm zur Weltchronik des Rudolf von Ems:
Der in Ms Rh. 15 überlieferte Text des Rudolf von Ems ist mit 100 kolorierten Federzeichnungen illustriert.
Bildfelder:
Die Grösse der Bildfelder ist sehr aufschlussreich, da kein Konzept konsequent durchgehalten wurde, sondern sich mehrere Komponenten überlagern. Das Auffälligste ist, dass bis Nr. 42 (fol. 124v) alle Bildfelder ganzseitig sind; nur Nr. 1 (fol. 2v) und 21, 22 (beide fol. 80v) bilden Ausnahmen; diese Illustrationen sind in den Schriftspiegel eingefügt.
Alle genannten ganzseitigen Miniaturen stehen auf Einzelblättern (siehe Lagenstruktur): Nr. 2–20 (foll. 6v, 28rv, 32v, 37r, 40r, 45rv, (nach fol. 48 fehlt eines dieser hinzugefügten Blätter; das Fehlen ergibt sich aus dem Bildprogramm; siehe dort), 54rv, 63r, 67r, 74v, 78r) und Nr. 23–42 (foll. 85r, 87r, 95v, 99r, 102r, 105r, 112v, 117r, 119rv, 124v).
Die nicht bemalten Seiten dieser ganzseitigen Miniaturen sind unbeschrieben; nur foll. 28, 45, 54, 119 sind beidseitig mit Illustrationen versehen. Bei den bloss einseitig bemalten Blättern fällt auf, dass es ästethisch unbefriedigend wirkt, wenn die/der BetrachterIn mit einer leeren Versoseite empfangen wird und erst nach dem Umblättern mit einer beeindruckenden Doppelseite aus ganzseitiger Miniatur verso und Text recto entschädigt wird. Dies ist umso weniger befriedigend, als der zum Bild gehörende Textabschnitt bei dem ersten derartigen Fall (fol. 6v: Turmbau zu Babel) schon auf fol. 5v, also vis a vis der leer gebliebenen Seite beginnt. Diese aus heutiger buchästethischer Sicht als Mangel zu qualifizierende Gestaltung wird durch ein weiteres Phänomen verstärkt, das unserer heutigen Ästethik widerspricht. Der Schriftspiegel der Textseiten und die Höhe der Miniaturen stimmen nicht überein, die Miniaturen sind jeweils etwas höher, der Turmbau zu Babel (Nr. 2: fol. 6v) sogar sgnifikant.
In weiterer Folge stehen die Bildfelder auf Textseiten und sind – so wie in der St. Gallener Weltchronik – nur noch zwei Drittel der Seite gross.
Die Bildfelder sind in der Regel durch doppelregistrige Miniaturen ausgefüllt. Die Miniaturen Nr. 2 (fol. 6v), 3 (fol. 28r), 6 (fol. 32v), 9–14 (foll. 40r, 45r, 45v, 54r, 54v, 63r), 39 (fol. 119v), 40 (fol. 119v), 64 (fol. 172r), 77 (fol. 197r), 88 (fol. 218v) und 95 (fol. 231r) füllen ein Bildfeld mit nur einer Darstellung aus. Bei den Nummern 47/48 (fol. 140v), 56/57 (fol. 159r) und 89/90 (fol. 221r) ist die obere Miniatur doppelspaltig und die untere nur einspaltig. Dieses System folgt den jeweils entsprechenden Miniaturen in der St.Gallener Weltchronik. Bei Nr. 44/45 (fol. 137r) ist es genau umgekehrt. Die Miniaturen Nr. 43 (fol. 133r), 51 (fol. 148r) und 52 (fol. 149v) sind gewöhnliche doppelspaltige Miniaturen. Die Nummern 46 (fol. 138v) und 96 (fol. 234v) sind etwa halbseitig.
Die Nummern 1 (fol. 2v), 21 und 22 (fol. 80v), 53 (fol. 151v) und 97 (fol. 235v) sind einspaltig: Nummer 22 und 53 sind zudem hochformatig; Nummer 21 und 22 haben sich aus einem Bildfeld der St. Gallener Handschrift entwickelt. Bei den Nummern 98–100 (fol. 239v), die aus einer doppelregistrigen und einer unten angefügten einspaltigen Miniatur bestehen, ist der Vergleich mit St. Gallen unmöglich, da der entsprechende Abschnitt dort nicht erhalten blieb.
Zusammenfassend gewinnt man den Eindruck, der Aufbau des Bildprogramms des Ms. Rh. 15 war von einiger Unsicherheit geprägt.
Rahmen der Bildfelder:
Die Bildfelder sind von einem zweigeteilten Rahmen (Rot, Grün, Gelb, gebrochenes Violett) umgeben; der hellere Farbton ist immer innen. Ein schwarzer Strich grenzt den Rahmen zum Hintergrund ab. Oft setzen sich die Szenen jedoch über die vom Rahmen gegebenen Grenzen hinweg; ganze Teilszenen spielen ausserhalb des eigentlichen Bildfeldes (z.B. Nr. 2 [fol. 6v]). Der Hintergrund ist blau; selten tritt Goldgrund auf (Nr. 1: fol. 2v).
Farben:
Die Federzeichnungen werden durch mehr oder weniger deckend aufgetragene, sehr vielfältige Farben koloriert. Neben deckendem Zinnoberrot kommen helles Rot, Blau und Violett, gebrochene Rot-, Lila- und Gelb-/ Brauntöne und viele Grüntöne vor. Alle Figuren und Objekte heben sich hell vom dunkelblauen Grund ab. Lichtreflexe sind entweder mit Deckweiss aufgesetzt, oder ausgespart, so dass der Pergamentgrund durchscheint. Metallisches Gold wird für die Gloriole Gottes und für einzelne Gegenstände verwendet.
Figuren:
Die Figuren sind in lange durch reiche Faltenkonfigurationen mit tiefen, schattigen Faltentälern gegliederte Gewänder gehüllt. Die Faltenmassen sind meist vom darunterliegenden Körper abgehoben und gleichsam selbständig; der Kopf, die Hände und Füsse sind nicht organisch damit verbunden. Die schematischen Bewegungen wirken hölzern und oft unglaubwürdig. Das Relief der Falten scheint auf einem papierdünnen bildparallelen „Körper“ angeklebt. Auch wenn die Figuren in modisch eng anliegende Gewänder (z.B. Saul Nr. 67 und 68 [fol. 179v]) gekleidet sind, wird von ihrem Körper wenig mehr spürbar. Die schematischen Gesichter werden von dem rot hervorgehobenen Mund und den wallenden Haaren optisch beherrscht.
Raum und Fläche:
Die Figuren stehen fast immer auf der unteren Rahmenleiste. Da sie kein Volumen haben, können sie problemlos vor die im Prinzip ebenso plane Landschaftskulisse geblendet werden. Selbst wenn die Figuren in die Landschaft integriert werden (z.B. Nr. 10 [fol. 45r] und 22 [fol. 80v]), ist es nicht der Raum, sondern die Dreieckskomposition die bestimmend wirkt. Diese Flächigkeit steht im Kontrast zu einer recht entwickelten Räumlichkeit bei der Darstellung von kubischen Einzelobjekten (Altäre, Throne) und Architekturen. So ist der Thron des Pharao (Nr. 15 [fol. 67r]) mit seinem Fussschemel und den Armlehnen ein recht konsequent tiefenräumliches Objekt, das zur sonstigen Raumlosigkeit der Miniatur nicht recht passen will. Ähnlich verhält es sich mit Architekturversatzstücken (z.B. Nr. 13 [fol. 54v]). In Nr. 4 (fol. 28v) und 100 (fol. 239v) wird das Bildfeld durch Architektur zu einem kubischen Innenraum geformt, in dem die Szene stattfindet; die komplexeren Architekturen in Nr. 53 (fol. 151v) und 95 (fol. 231r) sind freilich zu wenig konsequent dargestellt, um einen echten Handlungsraum zu bieten; in Nr. 95 ersetzt die Architektur den Rahmen der Szene vollständig. In Nr. 11 (fol. 45v) schafft die Architektur Teilräume, in denen wichtige Teile der Handlung ablaufen können. Stadtarchitekturen sind aus einer Vielzahl abwechslungsreicher und raumhaltiger Einzelteile zusammengesetzt (z.B. Nr. 77 [fol. 197r]).
Mode:
Die meisten Figuren sind als „Gewandfiguren“ der Darstellung von Mode weitgehend entzogen. Die Bauarbeiter des babylonischen Turmes (Nr. 2 [fol. 6v]) tragen jedoch Gewänder mit kurzen, gefalteten oder geschürzten Röckchen; der Rockansatz liegt sehr tief.
Ein Arbeiter trägt eine Gugel mit sehr langem Zipfel; viel kürzer ist der Zipfel in Nr. 73 (fol. 190v). Der Oberteil des Gewandes und die engen Ärmel müssen geknöpft gewesen sein; aber nur in Nr. 98 (fol. 239v) ist ein Oberteil, das bis zur Hälfte geknöpft ist, dargestellt.
Eine Modetorheit der 1360er Jahre (siehe z.B. die Weltchronik Cgm 5 in der Bayerischen Staatsbibliothek in München) sind die erweiterten Ärmel bzw. die daraus sich entwickelnden von den Ellbogen herunterhängenden Streifen. In der Züricher Weltchronik sind bereits Ansätze zu diesem Phänomen zu erkennen: bei Esau (Nr. 8 [fol. 37r]) und bei dem Schwertträger Davids (Nr. 73 [fol. 190v]) sind die bis zu den Ellbogen reichenden Ärmel bereits minimal „kelchförmig“ erweitert. Auf eine andere Quelle gehen die lose hängenden Ärmel bei Rebecca (Nr. 7 [fol. 37r]) zurück. Schon im 13. Jahrhundert gibt es Darstellungen, bei denen zu erkennen ist, wie der Arm durch einen Schlitz im Ellbogen- oder wie hier im Schulterbereich das Gewand verlässt (vgl. die Titelminiatur der Rudolf von Ems Weltchronik, München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 8345, fol. Ir).
Die Mode der Damen beschränkt sich fast nur auf den Kopfschmuck. In den Nummern 4 und 5 (fol. 28v) sind gerüschte Gebände mit Haarnetzen dargestellt. In Nr. 7 (fol. 37r) ist Rebecca in ein enges Gewand gehüllt, dessen Falten vom Gewandstau am Boden dominiert werden. Auf ihre lose herunterhängenden Ärmel wurde bereits verwiesen. Interessant sind die beiden Frauen in Nr. 17 (fol. 74v), die ihre Kinder tragen; eines sitzt auf den Schultern der Mutter; das andere wird in einem Tragetuch gehalten.
Der Herrscher in Nr. 2 (fol. 6v) ist so wie die Arbeiter in ein kurzes Gewand gekleidet. Die Herrscherwürde wird durch einen Herzogshut, das Zepter und einen hermelinbesetzten Mantel angezeigt. Saul trägt in den Nummern 67 und 68 (fol. 179v) ein ähnliches Gewand; dieses hat jedoch Ärmelausschnitte und einen seitlich geschlitzten Rock. Abimelech (Nr. 44 [fol. 137r]) und Salomo (Nr. 92 [fol. 223r]) sitzen auf Faldistorien mit Löwenköpfen.
Die Gerüsteten sind meistens nur sehr ungenau dargestellt. Ausser den spitzen Helmen und den kurzen, teilweise ärmellosen Übergewandern, deren Röckchen mitunter gelappt sein können (Nr. 11 [fol. 45v]), fehlen alle weiteren Details. In Nr. 60 (fol. 166v) und 64 (fol. 172r) ist jedoch zu erkennen, dass die Beine mit einer Schuppenpanzerung geschützt und die Knie mit einem eigenen runden Schutz versehen sind. In Nr. 76 (fol. 194v) trägt Joab ein geschupptes Brustteil; sein Rock und die Schulterstücke sind eng gefaltet.
Genauer sind die Waffen dargestellt: Schwert, Lanze und Dolch kommen häufig vor. In Nr. 46 (fol. 138v) ist auch eine Armbrust mit Spannring zu sehen. Weiters sind Dreieckschilde (Nr. 20 [fol. fol. 78r], 60 und 61 [fol. 166v]) und Hellebarden (Nr. 60, 61 [fol. 166v]) dargestellt. Nahezu alle Waffen sind bei der Belagerung Jerusalems (Nr. 77 [fol. 197r]) gut zu sehen. Hinzweisen ist etwa auf den am Gürtel befestigten Köcher für die Bolzen der Armbrüste. In Nr. 39 (fol. 119r) sind die Reiter der Armee Josuas in gepunktete und karierte Gewänder und die Pferde in ebensolche Überwürfe „gekleidet“. In Nr. 56 (fol. 159r) ist das Übergewand eines Reiters vorne durchgeknöpft; in Nr. 47 (fol. 140v) ist eine Pferdedecke mit zwei Vögeln geschmückt. In Nr. 72 (fol. 186v) sind Sättel mit geflochtenen Sattelgurten und Steigbügel zu sehen.
Ein Spezialgebiet sind die Wappen. Jene in Nr. 77 (fol. 197r), Nr. 80 (fol. 204r) und Nr. 86/87 (fol. 217r) zeigen Wappenbilder, die – da sie einigermassen spezifisch sind – identifizierbar sein könnten, wenn es sich denn um reale Wappen und nicht um Phantasiegebilde handelte. Dass es sich um Phantasiewappen handelt, vermutet Konrad Escher, Der Züricher „Rudolf von Ems“, in: Archives héraldiques suisses = Schweizerisches Archiv für Heraldik = Archivio araldico Svizzero 1918, S. 152–154, bes. S. 154, und Rolf Kälin von der Schweizerischen Heraldischen Gesellschaft bestätigt das in einer Anfragebeantwortung vom 28. Jänner 2019.
Eine untergeordnete Rolle spielen geistliche Gewänder. Der als Bischof dargestellte Hohe Priester bei der Tempelweihe (Nr. 95 [fol. 231r]) ist mit einer Alba, einer Kasel und einer Mitra bekleidet.
Realien:
Die Handschrift bildet viele zeitbezogene Gegenstände des täglichen Lebens ab.
Die Architekturdarstellungen enthalten viele gotische Stilelemente. Hervorzuheben ist der Gewölbeeinblick in eine Kirche (Nr. 95 [fol. 231r]). Die Gewölbe werden von Rundpfeilern getragen; die Vierung wird besonders hervorgehoben. Stadt- bzw. Burgarchitekturen werden aus vielen Einzelteilen zusammengesetzt. Die Schwalbenschwanzzinnen (Nr. 11 [fol. 45v]) und das Burgtor mit Fallgitter und buckelförmigen Beschlägen (Nr. 38 [fol. 117r]) fallen besonders auf.
Die Arbeitswelt tritt uns im Baubetrieb des babylonischen Turmes (Nr. 2 [fol. 6v]) besonders detailreich entgegen. Der Turm wird von den beiden mit Laufrädern bedienten Kränen überragt; die Tragseile werden durch je zwei Umlenkrollen geführt. Zum Heben von Steinen dient eine Zange am Ende des Kranes. Helfer tragen den Mörtel in Bottichen über eine Leiter auf den Turm. Dort arbeitet ein Maurer mit einer Kelle. Unten arbeiten Steinmetze mit Hacken und Winkelmassen. Links sind eine Kalkgrube und eine Bauhütte zu erkennen.
In Nr. 88 (fol. 218v) ist ein an seinem Pult arbeitender Schreiber dargestellt; er hält die Feder und das Radiermesser in der Hand.
Der Verkehr ist vor allem durch die genaue Darstellung des Wagens (Nr. 12 [fol. 54r]) vertreten. Der zweiachsige Wagen mit Deichsel und genau erkennbarer Anspannung hat Räder mit keulenförmigen Speichen und grosser Radnabe. Der Aufbau besteht aus einem Holzgerüst mit Flechtwerk und einer darübergespannten Plane. Gepäck wird häufig in schlauchartigen Säcken getragen (Nr. 17 und 18 [fol. 74v]). Auch die Geldkatzen am Gürtel (Nr. 44 [fol. 137r]) gehören in diesen Bereich.
Das Totenlicht (Nr. 93 [fol. 225r]), das „Ewige Licht“ (Nr. 95 [fol. fol. 231r]), das Räucherfass (Nr. 94 [fol. 225r]) und das Aspergile (Nr. 97 [fol. 235v]) decken den liturgischen Bereich ab. Interessant ist weiters der mit Tellern, Schüsseln, Prunkgefässen, Gläsern und Messern reich gedeckte Tisch in Nr. 82 (fol. 205v). Die Musik wird durch die Harfe mit einem Löwenkopf am Rahmen (Nr. 47 [fol. 140v]), die Fiedel, die Zither und die Drehleier (Nr. 88 [fol. 218v]) gut vertreten.
Auffallend ist, dass sich sowohl Mode als auch Realien besonders in den grossformatigen Bildfeldern finden; offenbar war bei diesen der Einfluss des Vorbildes nicht so stark, da wegen des veränderten Formates Veränderungen sowieso nicht zu umgehen waren.
Noach versorgt die Arche mit Lebensmitteln. Diese einspaltige Miatur ist in den Schriftspiegel integriert und steht nicht auf einem eingefügten Einzelblatt.
Josef begrüsst Jakob und eine Frau; die Brüder stehen dabei (Die Identität der Frau, die Josef begrüßt, ist unklar; die Komposition verleitet zu der Annahme, dass Josef seine Eltern begrüsst; freilich ist seine Mutter Rahel schon lange tot.)
Amalekiterschlacht.
In der St. Gallener Weltchronik fehlt nach fol. 56 ein Blatt mit einer Miniatur. Dass dort jedoch die beiden auf fol. 78r in Zürich stehenden Szenen dargestellt waren, macht die Stellung des Blattverlustes im Text unwahrscheinlich. Ob der „Durchzug durch das Rote Meer“ oder das „Wachtelwunder“, die im Cgm 6406 jeweils als doppelregistrige Miniaturen vorkommen bzw., auf dem in St. Gallen fehlenden Blatt illustriert waren, kann nicht entschieden werden.
Mose (?) spricht mit den Ältesten (? – Das Vorbild für diese und die folgende Miniatur stellt die eine Miniatur auf fol. 61r der St. Gallener Weltchronik dar. Dort erscheint Gott in der Mandorla freilich Mose, Aaron und den Ältesten.)
Gideon drückt das feuchte Vlies aus; Gideon nimmt das trockene Vlies aus einer Schüssel; Gideon breitet das Vlies aus.
Diese und alle folgenden Illustrationen sind in den Text integriert und stehen nicht mehr auf eingefügten Einzelblättern.
Es fehlen 108 Verse (Rudolf von Ems, Vv. 18.508–18.611); für die kombinierte Szene aus „Gideons Krieger mit Posaunen und Fackeln“ und „Die Heiden töten einander in Panik“ (siehe bei „Abweichungen durch Blattverluste“) steht die Fläche von 56 Versen zur Verfügung.
Simson besiegt den Löwen (2x) (In der St. Gallener Weltchronik (fol. 120v) besiegt Simson den Löwen vor seinen Eltern und gibt ihnen dann den Honig aus dessen Maul. Hier wurde die Szenenabfolge geändert; daher steht der Löwenkampf jetzt zweimal nebeneinander.
Das Bildprogramm stimmt mit der St. Gallener Weltchronik (Vadiana, Ms. 302, die etwa 40 Jahre älter ist, weitgehend überein. Beide Handschriften verwenden ein Bildprogramm, das für die Weltchronik des Rudolf von Ems im deutschen Südwesten entwickelt wurde (Roland, Illustrierte Weltchroniken, S. 282–288; Roland, Erzählstrategien, S. 302f.): Ältester Beleg dieses Bildprogramms ist eine dreispaltig angelegte Handschrift, die um 1280 an der nördlichen Grenze des oberdeutschen Sprachraums entstand und von der sich heute bloss ein Fragment erhalten hat (Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, FG 3). Obwohl das dreispaltige Textlayout auf hohe Ansprüche weist, ist die einzige Illustration nur als Federzeichnung ausgeführt. Ob dies dem beabsichtigten Endzustand entspricht, ist umstritten. Ein weiteres Fragment, das älter ist als der St. Gallener Rudolf von Ems-Codex (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs. 42.522) und wohl um 1300 im Elsass entstand, weist eine Teilszene auf, die über das in St. Gallen überlieferte Repertoire an Illustrationen hinausweist. Die Illustrationen dieses Fragments sind als lavierte Federzeichnungen ausgeführt. Man muss vermuten, dass es schon vor 1300 sowohl einen Pool an Illustrationen gab, aus denen ein Besteller auswählen konnte, als auch verschieden teure Techniken (Federzeichnung, Federzeichnung mit farbigem Bildgrund, lavierte Federzeichnung, Deckfarbenmalerei [mit Goldgrund]). Diese Illustrationen sind, unabhängig in welcher Technik sie ausgeführt wurden, als grosse Bildfelder in den Text gesetzt, meist zwei Spalten breit und doppelregistrig, es stehen also zwei (oft zusammengrhörige) Szenen übereinander.
Zeitlich parallel zur Entstehung der St. Gallener Weltchronik verbreitet sich das hier beschriebene Bildprogramm in den bairischen Sprachraum, genauer nach Österreich, wie der Cgm 6406 der Bayerischen Staatsbibliothek in München belegt. Auffallend an dieser Überlieferungsgruppe ist, dass das Bildprogramm erweitert wird.
In den 1320er Jahren entstanden die ganzseitigen Szenen, die in der Staatsbibliothek zu Berlin als Ms. germ. fol. 623 erhalten blieben. Es handelt sich um 23 Blätter mit Deckfarbenminiaturen mit Goldgrund die – abgesehen von den ersten beiden Miniaturen, die das Bildfeld wie in St. Gallen in zwei Register teilen – ganzseitige Szenen, also so wie für viele Szenen in Zürich, zeigen. Schneider, Gotische Schriften, 2, S. 144f., geht auf Grund der Schreibsprache von einer Entstehung in Zürich aus, der Stil der Miniaturen könnte vielleicht eher in den Breisgau weisen (Roland, Illustrierte Weltchroniken, S. 11). Bemerkenswert ist, dass die Textgestalt nicht der hier behandelten Gruppe folgt, sondern näher an Rudolfs Urtext ist (Plate, S. 225f., 230–232: Gruppe Y). Bild- und Textüberlieferung gehen also bei diesen Fragmenten getrennte Wege. Die Illustrationen stellen zweifellos eine auf grosse Einzelfiguren fokussierte Weiterentwicklung des hier behandelnden Bildprogramms dar.
So wie es in den Fragmenten in Nürnberg und Berlin jeweils Szenen gibt, die über das Bildprogramm der St. Gallener Handschrift hinausweisen, ist dieses Phänomen auch bei Ms. Rh. 15 zu beobachten:
Neu im Bildprogramm sind die beiden Szenen zu Dina (Nr. 10 und 11 [fol. 45v]). Bei den Szenen zur Amalekiterschlacht (Nr. 19 und 20 [fol. 78r]) und dem Raub von Sauls Becher und Krug (Nr. 69 und 70 [fol. 181v]) ist die Rekonstruktion der St. Gallener Handschrift unsicher; wahrscheinlich waren jedoch andere Szenen illustriert.
Auch die Szenen 23 und 24 (fol. 85r) zum goldenen Kalb waren in St. Gallen nicht vorgesehen; dieser Abschnitt wird auch in der Überlieferungsgruppe um den Cgm 6406 der Bayerischen Staatsbibliothek und in der Wolfenbüttler Weltchronik 8 Aug 4° anders illustriert. Im Cgm 8345 kommen die beiden Szenen auf fol. 90v und 91r als Randillustrationen vor, und in der Pommersfeldener Handschrift (Schlossbibliothek, Cod. 303), die gewisse Beziehungen zum Cgm 8345 aufweist, ist zumindest die sehr charakteristische Szene des Verbrennens des goldenen Kalbes auf fol. 85r illustriert. Wie diese auffälligen Detailabweichungen zu erklären sind, muss einer Spezialstudie vorbehalten bleiben. Die Miniaturen am Schluss (Nr. 96–100 [foll. 234v, 235v, 239v]) waren im Bildprogramm der St. Gallener Weltchronik nicht vorgesehen und die Illustrationen entsprechen auch nicht dem erweiterten Bildprogramm des Cgm 6406.
An einigen konkreten Beispielen soll der Zusammenhang zwischen den der St. Gallener und der Züricher Handschrift aufgezeigt werden:
Bei der Berufung Mose (Nr. 14 [fol. 63r]; St. Gallen, fol. 45v) ist das Bildfeld in St. Gallen oben einspaltig; dort wird Gott auf einem Regenbogen thronend von einer Mandorla umgeben gezeigt. Der untere Teil wird vom links sitzenden Mose, der seine Schuhe auszieht, und von einer Landschaft mit Bäumchen am Horizont und Schafen ausgefüllt. In Zürich handelt es sich um eine ganzseitige Miniatur; freilich ist der obere Teil mit Gott in der Mandorla etwas schmäler als der untere. Mose, die Bäume und die Herde sind lebendiger und „räumlicher“ gestaltet, ohne jedoch das Vorbild vergessen machen zu können. Besonders die hockende Stellung Mose scheint vom Vorbild direkt angeregt worden zu sein. Neben all diesen Ähnlichkeiten ist bemerkenswert, dass in beiden Miniaturen der brennende Dornbusch, das eigentliche Symbol der Berufung Mose, fehlt.
Die ganzseitigen Miniaturen auf fol. 54r und 54v haben sich aus der doppelregistrigen Miniatur, St. Gallen, fol. 39r, entwickelt. Wenn man die Szenen – „Jakobs Reise“ und „Josef begrüsst seine Eltern“ – betrachtet, werden die Zusammenhänge sofort deutlich, obwohl sich durch das Bildformat bedingt grosse Unterschiede in der Komposition ergeben und die spätere Entstehungszeit der Züricher Handschrift sich besonders bei der Darstellung von Realien zeigt. Erhalten bleiben vor allem die friesartige, den Rahmen überschneidende Komposition der Reise und die Einbeziehung Rebeccas in die Begrüssungsszene.
Wie eng die beiden Bildzyklen zusammenhängen kann an der Begegnung des Jiftach mit seiner Tochter und von deren Opferung dargestellt werden (Nr. 47/48: fol. 140v – St. Gallen, fol. 113v). Die Übereinstimmungen beginnen mit den ungewöhnlichen Format, denn beide Miniaturen sind oben doppelspaltig, im unteren Register jedoch bloss einspaltig. Den Gerüsteten kommt die Harfe spielende Tochter mit einer Begleiterin entgegen. Unten stösst der Vater, die auf dem Feuer liegende Tochter seinem Versprechen folgend mit einer Stange fest in die Hitze. Trotz der Modernisierungen im Detail ist deutlich, dass beide Darstellungen aus demselben Bilderpool schöpfen. Einen parallelen Fall stellt die Bilderzählung zum Raub der Bundeslade und zum Tod Elis dar (Nr. 56/57: fol. 159r – St. Gallen, fol. 132v).
Missverständnisse beim Rezipieren der Vorlagen
Der Kopiervorgang ist die Ursache für einige charakteristische Fehler in der Züricher Handschrift. Beim Schlangenwunder Mose (Nr. 15/16 [fol. 67r]; St. Gallen, fol. 50r) trennt der Zeichner die in St. Gallen durch die Schlangen verbundenen Bildfelder; dadurch entstehen zwei Szenen. Oben befinden sich so wie in St.Gallen der thronende Pharao, Mose und Aaron; sogar der nach unten gerichtete Stab des Mose, aus dem sich in St. Gallen die Schlange entwickelt, die im unteren Bildfeld die Schlangen der ägyptischen Magier frisst, ist noch zu sehen. Der Züricher Zeichner hat aber offenbar die Verbindung der Bildfelder nicht verstanden, da er den linken Magier der St. Gallener Miniatur für Mose hält. Daher geht in seiner unteren Miniatur die siegreiche Schlange von dieser Figur aus. Das Vorbild bleibt aber besonders in der rhytmischen Komposition der drei Schlangenleiber erhalten. Dies obwohl der inhaltliche Aspekt missverstanden bzw. stark verändert wurde.
Ein weiteres Beispiel missverstehenden Kopierens ist bei Nr. 28 (fol. 95r) zu bemerken. So wie in der St. Gallener Weltchronik (fol. 73v)) ist diese Szene nicht deutbar; offenbar wurde die versuchte Steinigung Josuas und Kalebs mit der des Mose nach dem Untergang der Rotte Korachs vermengt. Die in St. Gallen noch deutlich erkennbaren Josua und Kaleb, die als Beweis für ihre Berichte ihre Kleider zerreissen, sind hier ganz in die Gruppe derer integriert, die Mose (?) vor dem Bundeszelt steinigen wollen.
In der in St. Gallen auf fol. 88v im unteren Register stehenden Miniatur sind die beiden Bildteile – „Mose blickt in das gelobte Land“ (links) und „Gott begräbt Mose (rechts)“ – kompositionell deutlich getrennt, indem jeder Szene eine Felsformation zugeteilt wird und beide Szenen recht gleichwertig nebeneinander stehen. In Zürich (Nr. 36 [fol. 112v]) erfüllt die Begräbnisszene die Mitte der durchgehend komponierten Landschaft; Mose, der in das gelobte Land schaut (ganz links), erscheint wie ein Zuschauer seines eigenen Begräbnisses.
In der in St. Gallen auf fol. 140v im oberen Bildregister dargestellten Szene sind Jonatan und ein Begleiter über einen Berg „robbend“ zu sehen. Jonatan erschlägt gerade einen in der unteren Szene kämpfenden Feind. Sein Begleiter hat das Schwert erhoben, und bei flüchtigem Betrachten scheint es, als wolle er Jonatan erschlagen. In Zürich (Nr. 60 [fol. 166v]) ist die Verbindung zur unteren Miniatur gelöst, und aus der Figur Jonatans ist der Feind geworden, den der Begleiter, der offenbar als Jonatan interpretiert wird, erschlägt. Trotz all dieser Veränderungen ist die Grundkomposition dieselbe geblieben.
Abweichungen durch Adaptierung und Komprimieren der Bilderzählung
Auf fol. 147v wird Simson dargestellt, wie er Füchse mit an den Schwänzen angebundenen brennenden Fackeln in die Felder der Philister jagt (Nr. 51). Die Ensprechung zu dieser doppelspaltigen Miniatur ist in St. Gallen auf fol. 122v). Dort wird diese Szene im oberen Register einer Miniatur dargestellt. Die Szenen des unteren Registers, die Geschichte mit dem Eselskinnbacken, werden in Zürich, dem Text folgend, erst fol. 149v (Nr. 52) illustriert. Das Auflösen einer doppelregistrigen Miniatur ermöglichte es die Bild- und Texterzählung besser zu parallelisieren.
Auf fol. 151v folgt Nr. 53 „Simson zerstört den Palast der Philister“ als einspaltige Miniatur, die freilich den grösseren Teil der Höhe der Spalte einnimmt. Im Vergleich zu dem doppelspaltigen und doppelregistrigen Bildfeld in St. Gallen (fol. 124v) wird die Komplexität der Bilderzählung und die benötigte Fläche reduziert. Dabei wird jedoch keineswegs nur vermindert, sondern es entsteht ein höchst modern wirkendes Raumkonglomerat, offenbar weil der Miniator sich von der Vorlage lösen musste.
Ein anderer Fall ist deutlich komplexer: Nach fol. 133 fehlt ein Blatt und mit ihm 105 Verse der Dichtung Rudolfs von Ems (Vv. 18.508–18.611). Das bedeutet, dass dort die Fläche von 55 Versen für Illustrationen zur Verfügung steht, denn ein vollständig beschriftetes Blatt umfasst 160 Verse. Im entsprechenden Bereich in der St. Gallener Weltchronik befinden sich ein doppelspaltiges und doppelregistriges Bildfeld auf fol. 107v. Der vorangehende herstellungstechnische Umbruch – ab fol. 133r wurden die Miniaturen nicht mehr auf Einzelblätter gemalt und eingehängt, sondern die Illustrationen wurden in den Text integriert – erklärt vielleicht den Umstand, dass nur die Fläche für eine doppelspaltige Miniatur ausgespart wurde und auf das in St. Gallen vorhandene zweite Bildregister verzichtet wurde. Dass man den Raum für die Illustrationen einschränkte, macht auch die Tatsache deutlich, dass die Miniaturen, die in St. Gallen auf fol. 109r standen (und sehr selten dargestellte Szenen enthielten), in Zürich fehlen.
Abweichungen durch Blattverluste
Im Fall von der durch einen Engel verhinderten Opferung Isaaks (Nr. 6, fol. 32v), die in St. Gallen fehlt, stimmte das Bildprogramm der beiden Codices überein, bloss ging in St. Gallen die Miniatur mit dem nach fol. 19 fehlenden Blatt verloren. Dasselbe ist bei Abimelech und der Jotamsfabel (Nr. 44/45: fol. 137r – in St. Gallen fehlendes Blatt nach fol. 110), bei David tötet Goljat (Nr. 64: fol. 172r – in St. Gallen fehlendes Blatt nach fol. 144, mit zwei Philisterschlachten (Nr. 86/87: fol. 217r – in St. Gallen fehlendes Blatt nach fol. 187) und mit David, seinem Schreiber und seinen Musikern (Nr. 88: fol. 218v in St. Gallen fehlendes Blatt nach fol. 189) der Fall.
Das Bildprogramm der beiden hier verglichenen Handschriften ist nahe verwandt; es gibt keine Argumente, die ausschliessen, dass es sich bei der Züricher Handschrift um eine direkte Kopie handelt. Auch von philologischer Seite fanden sich bisher keine entsprechenden Belege, freilich wurde das Phänomen auch noch nicht im Detail geprüft.
Abweichungen treten auch auf, weil im Züricher Ms. Rh. 15 Blattverluste zu beklagen sind. Mit grosser Sicherheit kann vermutet werden, dass nach fol. 48 ein Einzelblatt eingefügt war, das die beiden Szenen zu Potiphars Weib zeigte (St. Gallen, fol. 32v).
Über den Blattverlust nach fol. 133 wurde bereits oben berichtet. Schliesslich fehlt im Ms. Rh. 15 nach fol. 237 ein Blatt, das eine Miniatur zum Urteil Salomos enthielt (vgl. St. Gallen fol. 200v).
Alle diese Abweichungen gehen nicht auf das parallellaufende Bildprogramm zurück, sondern sind mit physischen Schäden an den beiden Codices zu erklären.
Das Bildprogramm dieser beiden Handschriften war die zentrale Inspirationsquelle für die 1411 in Lichtensteig (Kanton St. Gallen) geschriebene sogenannte Toggenburgbibel (Berlin, Kupferstichkabinett, Ms 78 E 1), deren Text mit einiger Wahrscheinlichkeit eine Abschrift der des Rh. 15 darstellt (siehe „Inhaltsangabe“). Neben Miniaturen, die die Vorbildhaftigkeit der Züricher Handschrift eindeutig belegen, gibt es freilich deutliche Erweiterungen des Bildprogramms (zu diesem Günther, S. 87–95).
Stil und Einordnung:
Der Schreiber und vor allem der Initialschmuck sichern die Handschrift für Zürich und verbinden sie mit dem 1346 datierten Statutenbuch des Züricher Grossmünsters (Zürich, Zentralbibliothek, Cod C 10a). Der Stil der Miniaturen wurde dagegen noch kaum untersucht. Vergleiche mit der Wandmalerei der Schweiz ermöglicht ein Kapitel in der zusammenfassenden Studie von P.L. Ganz, Die Malerei des Mittelalters und des XVI. Jahrhunderts in der Schweiz, Basel 1950. Die Fresken von Oberstammheim, Oberwinterthur und Kappel bieten jedoch keine stilistischen Grundlagen bzw. Parallelen. Eher ist auf Wandmalereien in einem Saal in Zürich, Rindermarkt 26 zu verweisen (Regine Abegg, Christine Barraud Wiener, Karl Grunder, Cornelia Stähli, Die Stadt Zürich: Altstadt rechts der Limat, Profanbauten (Die Kunstdenkmäler des Kantons Zürich III.II), Bern 2007, S. 414–417). Besonders charakteristisch sind die kleinen Architekturwürfel, die eine Datierung um die Mitte des 14. Jahrhunderts bestimmen, obwohl der Figurenstil durchaus altertümlich ist.
Eine über St. Blasien im Schwarzwald nach St. Paul im Lavanttal gelangte Handschrift (Stiftsbibliothek, Cod 44/1) bietet sich als Vergleichsbeispiel an. Diese und ein etwas früher (in den 1330er Jahren) auch im Bodenseeraum entstandenes Speculum humanae salvationis (Kremsmünster, Stiftsbibliothek, Cod 243: W. Neumüller, Speculum humanae salvationis. Vollständige Faksimile Ausgabe des Codex Cremifannensis 243 des Benediktinerstiftes Kremsmünster und Kommentarband [= Codices selecti 32], Graz 1972) verwenden dieselbe Technik. Es werden kolorierte Federzeichnungen mit dem dunklen Hintergrund kontrastiert. Neu in dieses Stilumfeld ist eine Miniatur auf einem 1343 in Avignon ausgestellten Bischofsammelablass, dessen kolorierte Federzeichnung jedoch erst vor Ort eingefügt wurde: http://monasterium.net/mom/IlluminierteUrkunden/1343-05-06_Nuernberg/charter.
Die Figuren des Kremsmünster Speculums sind jedoch kompakter; die Falten der Gewänder und die Bewegungen der Körper stimmen viel besser überein als in der Weltchronik. Diese Unterschiede sind durch die etwas frühere Entstehung und die beträchtlich höhere Quatität des Zeichners zu erklären.
Bei dem Titelblatt der Expositio in Cantica Canticorum aus St. Paul ist es nicht nur die offenbar im Bodenseeraum übliche Technik, sondern vor allem der Figuren- und Faltenstil und die experimentierfreudige Architekturdarstellung, die die Handschrift mit der Züricher Weltchronik verbindet. Die besonders in der Weltchronik durch die stärkere Lavierung reliefartigen Falten des Gewandes „verschleiern“ die stark gelängten unplastischen Körper; ornamentale Saumlinien, die auch schon im Speculum ähnlich vorkommen, spielen eine große Rolle. Auch die Gesichtsbildung mit dem betonten Mund und die ornamentalisiert gelockten Haar sind identisch. Es bedürfte einer näheren Untersuchung dieser Handschrift, um festzustellen, ob tatsächlich dasselbe Züricher Atelier an der Arbeit war. Zweifel daran werden durch den restlichen figürlichen Buchschmuck geweckt, dessen Qualität schwächer erscheint; die unfigürliche Ausstattung ist irrelevant und ermöglicht keine Vergleiche mit dem hochentwickelten Fleuronnée der Weltchronik.
Einband:
Brauner Ledereinband über vergleichsweise dünnen Holzdeckeln; je zwei (wohl kaum originale) Lederbänder im Vorder- und Rückdeckel verankert. Diese heute nur noch fragmentarisch erhaltenen Bänder sollten wohl mit einer Masche verschlossen werden. Rücken mit fünf Doppelbünden. Kapital mit hellbeigem Faden umstochen. Der Einband wohl aus dem 16. Jahrhundert. Die Verbindung der Deckel mit dem Buchblock schadhaft.
Die sehr schadhafte Überklebung mit schwarzem Papier erfolgte im 18. Jahrhundert (Kotrba, S.22–25 und 148f.).
Am Rücken Bibliothekssignaturen: oben „CVIIL“ und unmittelbar darunter (in Gold): „XV“ (wohl beides 18. Jahrhundert). Unten modernes Papierschildchen mit der heute gültigen Signatur: Ms Rh 15.
Hauptsprache: Oberrheinisch. Schneider, Gotische Schriften, 2, S. 144f., geht auf Grund der Schreibsprache von einer Entstehung in Zürich aus.
Inhaltsangabe:
VD, Spiegel
Eingeklebtes Papierschildchen mit Signatur (XV), korrekter Inhaltsangabe und Datierung ins 14. Jahrhundert. Der Schreiber stimmt mit der Notiz auf fol. 240r überein. Die Schriftformen weisen ins (spätere) 18. Jahrhundert.
foll. 1r–239vRudolf von Ems: Weltchronik, Vers 445–34.068.Bis des zeichens underscheit …–…
Nach kuneglicher phlihte
Edition von Ehrismann; zur Textgestalt Jaurant, S. 267–269, und Plate, S. 228 (Überlieferungsgruppe X).
Am Beginn der Handschrift fehlen gemäss der Lagenstruktur (siehe oben) drei Blätter.
Ein vollständig beschriebenes Blatt (pro Seite zwei Spalten mit je 40 Versen) fasst 160 Verse. Es steht die Fläche von 35 Versen (also fast eine Spalte) für zu vermutenden Dekor (und eventuell für eine Rubrik) zur Verfügung. In Frage kommt primär eine grosse Initiale zu Beginn. Die vorhandenen Fleuronnée-Initialen sind weniger als spaltenbreit und beanspruchen jeweils weniger als die Fläche von fünf Versen. Selbst wenn die Initiale zu Beginn deutlich grösser war, sind kaum mehr als 10 Zeilen zu veranschlagen. Zusätzlich könnten Illustrationen vorhanden gewesen sein; die erste erhaltene Miniatur zur Arche Noachs (fol. 2v; siehe „Bildprogramm“) benötigt die Fläche von 12 Versen. Zwei Illustrationen und eine Initiale könnte man also hypothetisch rekonstruieren.
Auch am Schluss fehlt Text. Zur Textgestalt des Schlusses („erste Fortsetzung“) siehe Jaurant, S. 53 (Anm. 217), und die eng verwandte Toggenburgbibel (Berlin, Kupferstichkabinett, Ms. 78 E 1: Jaurant, S. 73–75, bes. S. 74: bis V. 34.510). Ob es sich bei diesem 1411 datierten Codex tatsächlich um die (im Bereich der Bilder teilweise verändernde) Abschricht des Rh. 15 handelt, ist noch nicht erwiesen; vgl. einen Hinweis bei Jaurant, S. 267 (Anm. 967). Wenn man das Ende des Berliner Codex, der keine physische Verstümmelung wie Rh 15 aufweist, mit der Züricher Weltchronik vergleicht, dann fehlen 442 Verse (Vv. 34.069–34.510). Was jedoch unbestritten ist, ist, dass der St. Gallener Codex (Vadiana, Ms. 302), der Züricher Codex, die Toggenburgbibel und die 1407 abgeschriebene, nicht illustrrierte Fassung in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 33, eng zusammenstehen (Plate, S. 228). Zur Rekonstruktion des physischen Bestandes vgl. auch die Lagenstruktur und „Zustand: Blattverluste“.
fol. 240r
Detailliertere Angaben zum Inhalt und zur Gliederung in die verschiedenen biblischen Bücher. Spätbarocker Schreiber wie VD, Spiegel.
Entstehung der Handschrift: Die Entstehung in Zürich kann wahrscheinlich gemacht werden. Wer den Codex jedoch bestellte und in weiterer Folge besas, ist nicht bekannt.
Provenienz der Handschrift: Erst aus der Barockzeit findet sich auf fol. 1r eine Besitzeintragung (17./18.Jh.) des Benediktinerstiftes Rheinau: Sum monasterii beatissimae virginis deiparae in Rheinaw. Die Handschrift wird zum ersten Mal im dem von P. Basilius German von Lichtensteig (gest. 1794) verfassten Katalog der Stiftsbibliothek Rheinau (Zürich, Zentralbibliothek, Rh hist 112) auf S. 123ff. erwähnt.
Erwerb der Handschrift: Nach der Aufhebung des Stiftes 1862 gelangte die Handschrift mit der ganzen Bibliothek des Klosters Rheinau in die Zentralbibliothek nach Zürich.
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Danielle Jaurant, Rudolfs „Weltchronik“ als offene Form. Überlieferungsstruktur und Wirkungsgeschichte, Tübingen, Basel 1995, S. 267–269.
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Cordula M. Kessler, Gotische Buchmalerei des Bodenseeraums, in: Buchmalerei im Bodenseeraum 13. bis 16. Jahrhundert, hrsg. von Eva MOSER, Friedrichshafen 1997, S. 251f. (KE 37).
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Martin Roland, Erzählstrategien der Bildprogramme zur ‘Weltchronik’, in: Rudolf von Ems. Akten der Konstanzer Tagung, S. 301–324, zur Züricher Handschrift S. 302–304 sowie Abb. 2d und 9b (im Druck).
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