Cologny, Fondation Martin Bodmer, Cod. Bodmer 117
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Wetzel René, Deutsche Handschriften des Mittelalters in der Bodmeriana, Cologny-Genève 1994, S. 155-158.

Manuscript title: Niebelungenlied und Klage, Hs. a
Place of origin: Bayern
Date of origin: 2. V. 15. Jh.
Former shelfmark: Sign. I. 3. 4° 2.
Support: Papier. 2 sehr ähnl. Papiersorten: 1. Lagen 1-2 u. 5: Wz. 3 Kirschen am Stiel (ohne Blätter), ähnl. BR. 7424 (Bayern 1427, ident. Var. Provence 1429, Brügge 1435). 2. Lagen 3-4 u. 6-9: Wz. Zirkel, ähnl. Br. 4463 (Passau 1429, Var. Bamberg 1490). Die 10. Lage ist gemischt, die 11. (Doppelbl.) ohne Wz. Die beiden nicht sehr häufig vorkommenden Papiere sind ital. Provenienz u. wurden wohl über den Brenner nach Bayern exportiert (vgl. Becker, S. 150).
Extent: I + 260 + I Bll.
Format: 26,8 x 19,5
Foliation: Alte Tintenfoliierung 1-72 für die beiden ersten Lagen, von neuerer Hand mit Bleistift fortgesetzt 73-260. Unbeschrieben die Bll. 71r, 260v sowie der jüngere Vor- und Nachsatz.
Collation: 11 Lagen: 1r + XX40 + XVI72 + XXII116 + 5 XII236 + I238 + X258 + I260 + 1II (verklebte Lagen nicht ausgeschlossen). Als Spiegel, mit den als Vor- bzw. Nachsatzbl. dienenden Gegenstücken 2 jüngere Doppelbll.
Condition: Einband leicht fleckig. Die beiden ersten Textbll. mit groben Ausbesserungen; Hs.-Schluß mit Wasserflecken. Einige Bll. leicht stockfleckig. Tintenfraß durch aggressive schwarze Tinte der 1. Hand. Im übrigen hervorragend erhalten. Aufbewahrt in einer dunkelblauen Kassette (rotes Titelschild aus Leder mit Goldprägung).
Page layout: Schriftraum ca. 17,5-19,2 x 12,0-13,4; einspaltig, 17-26 Z. pro S. Text fortlaufend geschrieben. Der Schriftrahmen meist mit Tinte gezogen, z. T. mit Blei oder fehlend.
Writing and hands: 3 Hände ca. 2. V. oder Mitte des 15. Jhs. von versch. Stilhöhe:
  • 1. 1r-87v, steile, kalligraphische dt. Bastarda, viell. von einer Kanzleischrift beeinflußt, eine Art Protofraktur, von größter Regelmäßigkeit mit streng durchgeführten Brechungen.
  • 2. 88r-102r, vor allem zu Beginn in der Tendenz ähnl. wie die 1. Hand, aber breiter, weniger gedrängt u. kompakt, nicht so betont kalligraphisch.
  • 3. 102v-260r, kursive Tendenzen einer flüssig u. regelmäßig schreibenden Hand, verstärkt gegen Schluß. Die geographische Einordnung der Schriften fällt schwer, sie könnten sowohl fränk. als auch bair.-österr. Einfluß zeigen.
Decoration: Einfache rote Lombarden von doppelter (Hand 3) bzw. dreifacher Z.höhe (Hand 2). Von der 1. Hand 2 vier Z. hohe rote Initialen, mit brauner Tinte verziert (1r, 75v), in der Initiale F viell. ein Wappen (roter Schild mit weißem Zaun?) eingezeichnet. Von derselben Hand kunstvolle zeilenhohe schwarze Initialen u. Verlängerungen von Oberlängen (Kopfzeilen). Rubriziert.
Binding: Der Cod. wurde wahrsch. in den 60er Jahren des 20. Jhs. mit altem Perg. auf Pappdeckeln neu gebunden. Manuskripteinband, doch nur noch vereinzelte Schriftspuren (lat.) auf Vorder - u. Hinterdeckel sowie über den Rändern. Auf der Innenseite des hohlen Rückens allerdings ein fortlaufend geschriebener Text in einer kleinen got. Minuskel oder Kursive. 3 einfache erhabene Bünde, die zu bei den Seiten des Rückens das Perg. durchstoßen. Vom selben Leder wie die Bünde auch die 4 Bändel (20,0-22,5 cm) für das Zubinden des Cod. Rückentitel in gotisierender brauner Schrift Nibelungenlied. Rot eingefärbte Schnitte. Gemäß einer älteren, bibliotheksinternen Beschreibung der Bodmeriana, wies die Hs. vor dem Neubinden 4 Bünde auf sowie den Rückentitel Nibelungen. / Lied. / Handschr. a. / XV. Jahrh. Mit dem neuen Einband auch die beiden Doppelbll. für Spiegel bzw. Vor- u. Nachsatz neu hinzugekommen. Sie sind mit Ausnahme von Bibliothekseinträgen der Bodmeriana leer. Laut der älteren, bibliotheksinternen Beschreibung gab es zuvor im Hinterdeckel einen Stempelder Fürstlich Oettingen-Wallersteinschen Bibliothek u. im Vorderdeckel die Signatur Sign. I. 3. (Deutsch) /4°. 2.
Main language: Mundart: Die 1. Hand zeigt am deutlichsten bair.-österr. Merkmale, weniger markant die beiden anderen Schreiber (z. B. nhd. Diphthongierung nicht konsequent durchgeführt). So stehen wohl Mittelbayern u. bayrisch Schwaben für eine Lokalisierung im Vordergrund.
Contents:
  • 1. 1r-191v Nibelungenlied
    • (1r) Prosaeinleitung: Da mann czalt vonn ckrist gepurde sibenn hunndertt jar, darnach jnn dem vierczistenn iar, da was Pipanus vonn Frannkchreich romisch[er] augostus
    • [1r Textbeginn, Strophe 329 = 6. Aventiure:]
      Es was gesezzenn ein chunigin uber see,
      irnn geleich west mann nit mer

      191r wy ir ding angeving[e]n, 191v seit der Heunen diet.
      Hy hat daz maͤr ein ende, daz sint d[er] Niblung geliet.
    Filiation: Die Prosaeinleitung faßt die ersten 5 Aventiuren in 13 Zeilen knapp zusammen. Unser Cod. ist als Hs. a der Nibelungen-Überlieferung bekannt. Er gehört zur liet-Gruppe der Hss., die von Wilhelm Braunes C* abgeleitet sind. a stammt zusammen mit dem Nürnberger Fragment R (Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Hs 22060) von einer Vorlage Ra* ab, die ihrerseits mit den Hss. CEF (+ n?) auf C1* zurückzuführen ist, dieses wiederum auf C*. a stellt neben C (Donaueschingen, Fürstl. Fürstenbergische Hofbibliothek, MS Nr. 63) die einzige einigermaßen vollständige Hs. der liet-Gruppe dar u. ergänzt C in dessen Lücken. Es fehlen a die Strophen 1-328 (1.-5. Aventiure, durch die Prosaeinleitung ersetzt), 352-402, 1, 729, 2-783. Daneben kleinere Lücken von bis zu einer Strophe (Strophenbestand vgl. Batts [s.o.], Anh. V, S.811-821).
    Abb.:
    • Bl. 1ra bei Von Der Hagen (s.o.), nach S. 588;
    • 1ra u. Str. 1563 bei Gustav Könnecke, Bilderatlas zur Geschichte der deutschen Nationallitteratur. Marburg 21912, S.38;
    • 1r-2v bei Otfrid Ehrismann, (Hg.), Das Nibelungenlied. Abbildungen, Transkriptionenund Materialien zur gesamten handschriftlichen Überlieferung der I. und der XXX. Aventiure (Litterae 23). Göppingen 1973, Abb. X-XIII;
    • 1v, 13v, 81v, 88r, 113v bei Batts (s.o.), Abb. 87-91.
    Teilabdrucke:
    • Prosaeinleitung, Probeverse in: Das Inland (s.o.);
    • Prosaeinleitung, Str. 329-351 bei Von Der Hagen (s.o.), S. 583-586;
    • Die C-Lücken bei Friedrich Zarncke, Beiträge zur Erklärung und zur Geschichte des Nibelungenliedes. In: Berichte über die Verhandlungen der Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig. Philol.-Hist. Cl. 8 (1856), S. 153-266, hier S. 244-263 [gesondert erschienen Leipzig 1857];
    • Prosaeinleitung bei Friedrich Zarncke (Hg.), Das Nibelungenlied. Leipzig 1871, S. XIII;
    • Prosaeinleitung in der heute noch maßgeblichen krit. Großen Ausg. von Karl Bartsch (Hg.), Der Nibelunge not, mit den Abweichungen von der Nibelunge liet, den Lesarten sämtlicher Handschriften und einem Wörterbuch. 2 Teile in 3 Bde. Leipzig 1870/80 (Repr. Hildesheim, New York 1966), S. XII;
    • Batts (s.o.), Anh. 11, S. 795;
    • Die Lesarten von a berücksichtigen die Ausg. von Zarncke, Bartsch (Große Ausg.),Batts (s.o.);
    • sowie die von Ursula Hennig (Hg.), Das Nibelungenlied nach der Handschrift C (Atb 83). Tübingen 1977;
    • Die Varianten der 30. Aventiure bei Ehrismann (s.o.), S. 3-22.
    Überlieferung
    • Wilhelm Braune, Die Handschriftenverhältnisse des Nibelungenliedes. In: PBB 25 (1900), S. 1-222;
    • Einleitung der Ausg. Hennig (s.o.), S. VII-XX;
      • Ursula Hennig, Zu den Handschriftenverhältnissen in der liet-Fassung des Nibelungenliedes. In: PBB 94 (1972), S. 113-133.
  • 2. 191v-260r Klage
    • Abentewer von der klag
      Hye hebt sich ein maͤr, daz ist vil redbaͤr
      und auch vii gut ze sagen, nur daz ez ze klagen
      den lewten all[e]n also geczimet

      erkennen wol daz maͤr. Von im frewd[e]n und auch von ir[er] swaͤr
      ich euch hye nicht mer sag, wann disez haiszet dy klag (etc)
      Disez buch ist maist[er] Ian,
      des schol nyma[n]t irrgan
      noch keinen czweifel han.
      Got in ny[m]m(er) schol v[er]lan:
      d[er] wu[n]sch im staͤt sey getan. Amen
    Filiation: Dieselben Überlieferungsverhältnisse wie beim Nibelungenlied. a geht hier mit dem Donaueschinger Fragment G (Fürstl. Fürstenbergische Hofbibliothek, MS Nr. 64) auf eine gemeinsame Vorlage zurück.
    Abb.:
    • Bl. 259v, letzte Zeile, bei Von Der Hagen (s.o.), nach S. 588;
    • 191v bei Könnekke(s.o.), S. 46.
    Teilabdrucke:
    • Schlußstrophen in: Das Inland (s.o.);
    • Anfang und Schluß bei Von Der Hagen (s.o.), S. 587f.
    • Die Lesarten von a berücksichtigt in der Ausg. von Karl Bartsch (Hg.), Diu Klage. Mit den Lesarten sämmtlicher Handschriften. Leipzig 1875;
    • ebenfalls bei Ranft(s.o.). Überlieferung: Ausg. Ranft (s.o.), Einleitung, S. V-LVII.
Origin of the manuscript: Der letzte Schreiber viell. ident. mit dem 1. Besitzer der Hs., vgl. das Kolophon im Anschluß an die "Klage", 260r: Disez buch ist maister JanBecker, S. 151, vermutet dahinter einen Kanzlei- oder Amtsvorsteher bzw. Lehrer, die Hs. könnte in einer bayerischen oder in bayrisch Schwaben gelegenen Handelsstadt in Gemeinschaftsarbeit von Angestellten einer Kanzlei oder Schreibstube angefertigt worden sein.
Provenance of the manuscript: Sie wurde 1823 in Wallerstein im Ries aufgefunden u. gelangte 1829 in die dortige Bibliothek der Fürsten von Oettingen-Wallerstein. Wahrsch. 1841 wurde sie in die Maihinger Bibliothek der Fürsten transferiert u. erhielt um 1870 (Katalog W. von Löffelholz, vgl. Cod. Bodmer 103) die Signatur I. 3. 4° 2 (Maihingen, Fürstlich Oettingen-Wallersteinsche Bibliothek.)
Acquisition of the manuscript: Martin Bodmer erwarb den Cod. im September 1934 direkt vom Münchener Antiquar Georg Karl (Karl + Faber), der in den Auktionen 8, 9 u. 11 vom 6./7. Nov. 1933, 11. Mai 1934 u. 7. Mai 1935 weitere Stücke vom wertvollen Bestand der fürstl. Bibliothek versteigerte (vgl. Cod. Bodmer 103).
Bibliography:
  • Das Inland. Ein Tagblatt. München, 6. u. 7. Sept. 1829, Nr. 249, 250 [mit Abdruck der Prosaeinleitung, von Probeversen und der Schlußstrophen];
  • Friedrich Heinrich Von Der Hagen, Nibelungen. Wallersteiner Handschrift. Mit einem Schriftbilde. In: Bericht über die zur Bekanntmachung geeigneten Verhandlungen der Kgl. Preuß. Akad. d. Wiss. zu Berlin. Berlin 1854, S. 573-588 [mit Abdruck der Prosaeinleitung, der Strophen 329-351, des Anfangs u. Schlusses der Klage sowie der Verse 4295-4322 der Klage mit dem Schreiber-Kolophon, selbständig erschienen Berlin 1855];
  • Adolf Holtzmann (Hg.), Das Nibelungenlied in der ältesten Gestalt, mit den Veränderungen des gemeinen Textes. Stuttgart 1857, S. V-XX [mit Abdruck der Prosaeinleitung];
  • Karl Bartsch, Deutsche Handschriften in Maihingen. In: Germania 8 (1863), S. 48-51, hier S. 48f.;
  • Georg Grupp, Öttingen-Wallersteinische Sammlungenin Maihingen. Handschriftenverzeichnis. 1. Hälfte. Nördlingen 1897, S. 27, Nr. 714;
  • Theodor Abeling, Das Nibelungenlied und seine Literatur (Teutonia 7 u. Suppl.). Leipzig 1907/09. (Repr. New York 1970), S. 180f. u. Suppl. S. 22f., S. 64;
  • Edward Schröder, Die Maihinger Handschrift des Nibelungenliedes. In: ZfdA 64 (1927), S. 282 f.;
  • Willy Krogmann u. Ulrich Pretzel, Bibliographie zum Nibelungenlied und zur Klage (Bibliographien zur dt. Lit. d. Mittelalters 1). 4., stark erw. Aufl., Berlin 1966, S. 18f.;
  • Michael S. Batts (Hg.), Das Nibelungenlied. Paralleldruck der Handschriften A, B und C Nebst Lesarten der übrigen Handschriften. Tübingen 1971, S. 808 u. Abb. 87-91 [mit Abdruck der Prosaeinleitung im Anhang 11, S. 795];
  • Brigitte Ranft (Hg.), Div Klage. Kritische Ausgabe der Bearbeitung C+. Diss. Marburg 1971, S. XIX-XXI;
  • Peter Jörg Becker, Handschriften und Frühdrucke, S. 150f.;
  • Karin Schneider, Deutsche mittelalterliche Handschriften, Augsburg, S. 88.
  • Das Nibelungenlied nach der Handschrift n. Hs. 4257 der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek Darmstadt, hrsg. von J. Vorderstemann, Tübingen, Max Niemeyer, 2000 (Altdeutsche Textbibliothek, 114).