Kurzcharakterisierung:Die Handschrift stammt aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts und überliefert die Dektretabbreviatio "Quoniam egestas", eine Kurzfassung des Decretum Gratiani, samt Glossen. Der Text der Handschrift ist das älteste datierbare Zeugnis für das Studium des Decretum Gratiani in Frankreich. Schrift und Buchschmuck zeigen, dass die Handschrift wahrscheinlich in Engelberg in der Zeit Frowins entstand. Seit 1461 lag sie im Kloster St. Gallen.(len)
Standardbeschreibung: Lenz Philipp / Ortelli Stefania, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Bd. 3: Abt.V: Codices 670-749: Iuridica; Kanonisches, römisches und germanisches Recht, Wiesbaden, 2014, S. 175-177.
Standardbeschreibung anzeigen
Zusätzliche Beschreibung: Scherrer Gustav, Verzeichniss der Handschriften der Stiftsbibliothek von St. Gallen, Halle 1875, S. 229-230.
Zusätzliche Beschreibung anzeigen
Online seit: 20.12.2012
St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 711
Pergament · 240 pp. · 29 x 20.5 cm · Engelberg · zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts
Lenz Philipp / Ortelli Stefania, Die Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen, Bd. 3: Abt. V: Codices 670-749: Iuridica; Kanonisches, römisches und germanisches Recht, Wiesbaden 2014, S. 175-177.
Lagenstruktur:
15 IV240. Wohl zeitgenössische Lagenzählung am Lagenende, dann zu Lagenbeginn, unten Mitte: I (p. 16) – II (p. 32), III (p. 33) – XV (p. 225).
Zustand: Pergament, manchmal Seitenrand mit Löchern oder unregelmässig, p. 197/198, 203/204 Riss mit weissem Faden vernäht, p. 1 und 240 stark gebräunt.
Seiteneinrichtung:
Schriftraum p. 2–18, Z. 2 zweispaltig, 20,5–21 × 14–15 (6,5), 27–30 Zeilen, p. 18, Z. 3 – p. 240 einspaltig, 20,5–21 × 12–12,5, 30 Zeilen, p. 24–31 31 Zeilen, Metallstiftlinierung – bei Bedarf auch speziell für längere Marginalien (z. B. p. 216, 217) –, Zirkellöcher am äusseren Blattrand.
Schrift und Hände:
Frühgotische Minuskel des 3. Viertels des 12. Jh., von mehreren Händen, in brauner und schwarzer Tinte:
3. Hand, ähnlich der 1. Hand (aber verschiedenes g und a), p. 194, Z. 10 – p. 195, Z. 30.
Dieselben Hände schreiben auch in gleichem Sorgfaltsgrad, in leicht kleinerer Schrift die Marginalien und orangefarbigen Inscriptiones auf den entsprechenden Seiten. Die Glossen sind z. T. in den Textblock eingelassen und orange umrahmt (p. 27, 28, 49, ... 227).
Buchschmuck:
p. 18 zu Beginn des Prologs und des Texts je eine Spaltleisteninitiale mit Ranken und Spangen, 3- bzw. 12-zeilig, rot, braun und schwarz, Letztere als bewohnte Initiale (Omne) mit Oberkörper und Kopf eines Mannes mit Bart und Kappe gestaltet;
p. 46, 58, 76, ... 221 zu Beginn der Causae meist 4–6-zeilige rote Lombarde oder Silhouetteninitiale, z. T. mit Schaftaussparungen, ab p. 177 meist gespalten und zweifarbig in Rot und Blau (littera duplex), p. 118 Figureninitiale (Tercia), Mann mit weiterer Person quer auf den Schultern in brauner Federzeichnung, deren Enden bzw. Hintergrund eine rote Lombarde T bilden, p. 194, 224, 228, 231 Initialen ausgespart und nicht ausgeführt;
zu Beginn der Kapitel bzw. Canones jeweils rote Inscriptio und eine rote Majuskel, p. 223–224 Inscriptiones ausgespart und nicht geschrieben;
bei den Dicta rotes Paragraphenzeichen.
Kopfzeile mit Angabe der Causa: I (p. 47) – XXV (p. 200), XXVIII (p. 220) – XXVIIII (p. 222).
P. 46–214 rote lateinische Buchstaben für Verweise mittels des Systems der »roten Zeichen« (vgl. Dolezalek/Weigand).
Spätere Ergänzungen:
p. 166 oben, 2. Hälfte des 12. Jh., Wiederholung des Beginns der Marginalglosse auf derselben Seite in anderer Tinte; p. 1 (s. u.) des 14./15. Jh., p. 37 des 14./15. Jh. zu D. 56 c. 1 (verkürzt): De filiis prespiterorum, identisch mit der Notiz auf einem Papierzettel (s. u.).
Einband:
Einband wohl aus den 1450er-Jahren. Leder (Wild, Alaungerbung) auf Holz (Buche). V-förmige Einschnitte beim Einschlag. 2 Hakenverschlüsse (Adler BV.3.1.1) mit gespaltenen Rinnenlagern (d2; in Form 10), Haken (Typ 1d), eingelassenen Lederriemen und aufgenagelten Gegenblechen in Form eines Vierblatts (BV.8d) am Rand des Hinterdeckels. Auf dem Rücken fragmentarisches Pergamentschild mit roter Signatur U, auf dem Vorderdeckel Abdruck eines Pergamentschilds mit der Aufschrift Excerptiones decretorum magistri Graciani. Gotische Deckelverbindung. Heftung auf 4 erhabene gespaltene Lederbünde, die mit Holzpflöcken in den Deckeln befestigt sind. Einfach umwickelte Kapitale mit knapp überstehendem Rückenleder.
Auf der Innenseite des Vorderdeckels und des Hinterdeckels von innen bis etwa zur Hälfte Abdruck und Leimspuren ehemaliger Spiegelblätter, auf der Innenseite des Hinterdeckels auf der rechten Hälfte Abdruck der letzten Seite p. 240. Ein kleiner Papierzettel (ca. 2 × 10) mit der Notiz De filiis prespiterorum (s. o.) und Resten einer Zeichnung zwischen p. 36 und 37 aufgefunden, jetzt dem Codex in einem Umschlag beigegeben.
Inhaltsangabe:
1
Besitzeintrag. Gehoͤrt in das gotzhus zů Sant Gallen. Eintrag. Dicendum quod prohibitio sit perpetua … C. xxxv q. iii [C. 35 q. 3]. Stempel D. B., Inhaltsangabe von Pius Kolb [s. o.], sonst leer.
2-240Abbbreviatio Decreti Gratiani »Quoniam egestas« (fragmentarisch) cum glossis
(2-18)
Capitula der Partes I–III.
D. 1. De iure …–…
De baptismo. Parte vel ultima.
Kuttner, Repertorium, S. 263–264 (diese Hs. aufgeführt);
Pennington, Medieval Cano- nists 1 (online), »Abbreviatio Decreti Quoniam egestas« (diese Hs. aufgeführt).
Zum Inhalt und mit Edition ausgewählter Texte und Glossen: Johann F. von Schulte, Über drei in Prager Handschriften enthaltene Canonen-Sammlungen: III. Exceptiones Decretorum Gratiani, in: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Kl. 56 (1867), S. 221–230;
Rudolf Weigand, Die Dekretabbreviatio »Quoniam egestas« und ihre Glossen, in: Winfried Aymans et al. (Hg.), Fides et Ius. Festschrift für Georg May zum 65. Geburtstag, Regensburg 1991, S. 249–265.
Vgl. Hartmann/Pennington, History of Medieval Canon Law in the Classical Period, S. 123–124, 176–177.
Entstehung der Handschrift: Aufgrund der Buchmalerei ist die Hs. dem Skriptorium des Klosters Engelberg unter Abt Frowin (1147–1178) zuzuschreiben (Steinmann).
Erwerb der Handschrift:
In der St. Galler Klosterbibliothek spätestens seit 1461, weil die Hs. im Katalog von 1461 unter der Rubrik Libri iuris canonici dem Eintrag U 21 Excepciones decretorum magistri Graciani (Ed. MBK 1, S. 177, Z. 18) entspricht. Besitzeintrag des 15. Jh. p. 1 (s. u.).
Stempel D. B. (p. 1, 236) von 1553–1564. Inhaltsangabe von Pius Kolb p. 1: Excerpta ex Gratiano, quo non solum utilia sed quam maxime necessaria videntur. Alte Signatur Pius Kolb p. 1: D.n. 142.
Bibliographie:
Stelling-Michaud, Catalogue, S. 26, Nr. 9.
Gero Dolezalek, Rudolf Weigand, Das Geheimnis der roten Zeichen, in: ZRG KA 69 (1983), S. 143–199;
Martin Steinmann, Aus dem Frowin-Scriptorium, in: Titlis-Grüsse 82 (1996), S. 95–96.