König Eberhard, Das Pariser Stundenbuch an der Schwelle zum 15. Jahrhundert. Die Heures de Joffroy und weitere unbekannte Handschriften, Ramsen Antiquariat Heribert Tenschert 2011, S. 256-279.
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Schriftdekor:
Großformig in Textura geschrieben, verbindet sich dieses Stundenbuch gegen die älteren hier vorgestellten Manuskripte mit unserer spätesten Handschrift, Nr. 6. Dazu passt der Schriftdekor aus großzügig gestaltetem Flächen- und Dornblattdekor mit Initialen, deren Räume - gegen die Tradition - nicht quadratisch, sondern, vor allem bei den einzeiligen, extrem in die Breite gezogen sind. Reklamanten sind in gleicher Weise wie der Text geschrieben und zuweilen ein wenig verziert. Die Gliederung der Texte ist durch die Hervorhebung der Nokturnen in der Marien-Matutin differenzierter als gewohnt.
Die Ranken des in die Bordüren ausstrahlenden Dornblatts sind aus zwei Konturen mit farbiger Füllung gebildet. Ähnlich traditionsbewusst verharrt der Dekor auf den dreizehn Seiten mit quadratischen Bildern: Prächtige Dornblattzierleisten sparen unten ein zwei bis drei Zeilen hohes Bas-de-page aus, das mit Ranken gefüllt wird. In den Ecken entspringen den Leisten die Hauptvoluten der ausgeprägten Spiralranken. Sie greifen so aus, daß die gesamten Ränder nach außen mit teppichhaftem Dornblatt gefüllt sind, während nur einzelne Blättchen zum Falz hin eingesetzt sind. Diese sprießen an dünnen Tintenlinien ebenso wie eine Art von feinen Spiralranken, die auf der Außenseite der Bordüren um die Mitte gebreitet ist. Sie finden sich auf allen Bildseiten und machen mit ihren roten und blauen vierblättrigen Blüten den eigentlichen Charakter der ursprünglichen Bordüren in unserem Buch aus.
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Die Bildfolge
Die Stunden des Marien-Offiziums und die Anfänge der Horen folgen ebenso wie das Madonnenbild zu den XV Freuden Pariser Brauch; hingegen stimmen die ungewohnten Bildthemen zu Bußpsalmen und Toten-Offizium mit dem Stundenbuch ehem. Weiller überein. Ganz ungewohnt und offenbar idiosynkratisch ist die Besetzung der VII Klagen des Herrn mit einem Christophorus, wie er im Boucicaut-Kreis üblich war.
Bei der Heimsuchung zu den Laudes (fol. 53v) treffen sich Maria und Elisabeth zwischen zwei emphatisch zu den Seiten aufsteigenden spitzen Felsen, vor Karomuster. Maria ist von links gekommen; von rechts empfangt Elisabeth sie und neigt sich zu ihr.
Das Weihnachtsbild zur Prim (fol. 65v) spielt im Stall von Bethlehem. Vor dem großformigen Karogrund, der auch durch eine Dachluke glänzt, ragt das Gebäude mit den hölzernen Pfosten und dem Strohdach von links hinten nach rechts vorn. Der Giebel steht, wie beim Mazarine-Meister üblich, schräg. Unter ihm nach vorn offen, wird der Innenraum zu den Seiten durch hellbraune Flechtzäune abgegrenzt. Die mit frischem Grün gefüllte Krippe ist rechts über dem Zaun befestigt; dorthin drängen Esel und Ochs, um auf Maria und das Kind zu schauen. Die Muttergottes hat auf dem roten Bettsack Platz genommen, an dessen Kopfende der eingeschlafene Ziehvater Joseph lehnt. Maria sitzt aufrecht wie bei manchen Bildern der Königsanbetung und hält den in weißes Tuch gewickelten Knaben auf dem Schoß.
Zur Verkündigung an die Hirten zur Terz (fol. 72) erscheint ein Engel in einem von gekräuselten Wolken umgebenen Himmelsausschnitt mit einem Schriftband, auf dem das Gloria in excelsis deo verkündet wird. Links steht ein Hirte auf seinen Stock gestützt; rechts taucht hinter einem runden Hügel ein zweiter auf. Ihre Schafe sind vorn, hinter einem Felsen, der nach rechts ansteigt, zusammengedrängt. Ein Hund dreht den Kopf nach rechts in die Höhe und kann deshalb den Engel kaum sehen. Mustergrund gibt der Miniatur eine dunkle Gewichtigkeit.
Die Konstruktion des Stalls bleibt bei der Anbetung der Könige zur Sext (fol. 77) dem ähnlich, was bei der Anbetung des Kindes zur Prim gezeigt wurde. Nur wirkt alles viel leichter, weil blauer Himmel mit weißlichem Horizont das Dach hinterfängt. Die Krippe ist entfernt, Esel und Ochs erscheinen aber immer noch an derselben Stelle. Das rote Bett ist nun stabiler gebaut mit vom Tuch verdeckten Eckpfosten, auf ihm thront Maria. Das nackte Kind sitzt auf ihrem Schoß, emsig vorgebeugt, um im Goldkasten zu kramen, den der älteste König ihm hinhält. Würdig erläutert der mittlere König dem jüngsten das Geschehen; dabei erhebt er zwar seine Rechte, aber ohne allzu deutlich auf den Stern hinzuweisen, der in der rechten oberen Ecke erscheint.
Daß die Darbringung im Tempel zur Non (fol. 81v) in einem Gebäude spielt, deuten die abwechselnd schwarzen und grünen Dreiecksfliesen an. Sie geben mit ihrer kühnen Verkürzung nach links hinten eine Grundlinie für den schräg gestellten Kasten des Altartischs; der ist jedoch in der um 1400 üblichen Art so gestellt, daß nur eine Ecke vorragt, die Schmalseite also nicht bildparallel steht und deshalb nicht mit dem Fliesenmuster überein gebracht werden kann. Gegen den Karogrund heben sich die Figuren ab. Von links ist Maria mit dem Kind herzugetreten, von einer Magd mit Taubenkörbchen begleitet. Der Knabe wird von Maria wie beim Weihnachtsbild zur Prim gehalten; als Wickelkind ist er still gestellt, kann also nicht auf Simeon reagieren, der hinter dem Altar steht und sich weit vorbeugt mit einem nur über seine Hände gebreiteten gelblichen Tuch, dessen Zipfel vor dem Altar herunterhängen. Marias tiefes Blau bildet den kräftigsten Farbeffekt neben dem hellen Zinnober des modischen Kleides, das die hier wie Simeon mit Nimbus ausgezeichnete, also wohl als Hanna missverstandene, Magd trägt.
Die Flucht nach Ägypten zur Vesper (fol. 86) spielt vor Mustergrund in einer schlicht ausgebreiteten Landschaft, für die ein kleiner Fels mit einem einzelnen Bäumchen links hinten und eine Felsschräge rechts vorn genügen. Gestrichel zeigt das Gras an, in dem auch ein paar Blattpflanzen angedeutet sind. In der großzügigen Komposition ist Platz für eine schöne Darstellung des Esels, auf dem Maria mit dem in den Mantel gehüllten Wickelkind gleichsam thront, während Joseph voranschreitet. Den grauen Esel führt er an einem Strick. seinen Stock mit einem Tuch hat er geschultert, während er sich zu Maria und dem Kind zurückwendet.
Das großformige Karomuster und ein hier aus rosafarbenen und blauen Dreiecken zusammengesetzter Fliesenboden stehen bei der Marienkrönung zur Komplet (fol. 93v) in überraschendem Konflikt. Der Schauplatz ist offenbar als ein Thronsaal begriffen, in dem links der grün verhängte Gottestbron mit einem weit vorkragenden Baldachin steht, während rechts ein Faltstuhl auf Maria wartet. Das Dreiecksmuster der Fliesen bricht in der Bildmitte um; es endet hinter dem Gottestbron strenger bildparallel, setzt sich aber unter dem Marienstuhl noch eine Weile in Schräge fort. Zwei Prinzipien treffen aufeinander: Um 1400 üblich war das Raumgeschiebe rechts; links aber versucht der Maler, nachdem er schon die Kante des Baldachins mit dem oberen Bildrand kombiniert hatte, auch die Thronwangen bildparallel einzurichten mit nach rechts, also zur Bildmitte fluchtenden Kanten. Ganz gelungen ist ihm das auch nicht, weil er mit der Schräge des Tuchs unten den Füßen der Gottheit dann doch wieder in die alte Raumdisposition zurückfällt. In dieser Kulisse empf'ängt Jesus als ein weltlicher König mit Krone vor dem Kreuznimbus die Jungfrau, die in ihrem blauen Mantel vor ihm mit gekreuzten Händen kniet. In schönem Schwung senkt sich ein Engel aus der Höhe, um Maria die Krone aufzusetzen, deren Perlenbesatz noch oberhalb des Nimbus vor dem Mustergrund aufleuchtet.
fol. 101: Statt der um 1400 gewohnten Buße Davids wird zu den Bußpsalmen die Herrlichkeit Christi am Jüngsten Tage gezeigt. Das geschieht in einer genialen Komposition, die das fast quadratische Bildfeld in einen Kreis mit sich wellendem Wolkensaum verwandelt. In das mit goldenem Akanthus gefüllte Binnenfeld ist der Regenbogen gespannt, auf dem Christus mit den Füßen auf einer goldenen Kugel thront. Die Zeichen der Passion machen ihn überdeutlich zum immer noch blutenden Schmerzensmann, den aber ein hellgrün gefütterter zinnoberroter Mantel einhüllt. Mit der erhobenen Rechten segnet er, während die gesenkte Linke die Verdammnis beim Jüngsten Gericht bezeichnet. In den oberen Ecken erscheinen die Halbfiguren zweier Engel, zur Rechten mit der Geißelsäule, zur Linken mit dem Kreuz. Ohne die Posaunen des Jüngsten Gerichts und ohne Auferstehung der Toten ist hier also die Wiederkehr des Erlösers am Jüngsten Tag gemeint, die als Voraussetzung für das Weltgericht begriffen wird und sich dabei an der Andeutung in Matthäus 16 orientiert.
fol. 124v: Zu den Horen waren wohl die üblichen Themen dargestellt, jedoch fehlt die Kreuzigung Christi auf Verso vor fol. 127.
Das Pfingstwunder (fol. 124v) vollzieht sich unter freiem Himmel, der hier wie bei der Anbetung der Könige zur Marien-Sext sehr licht wirkt; auch der Farbgeschmack mit den zarten Rosas und Grüns rückt diese Miniatur mit ihren ähnlich groß begriffenen Figuren auf das Engste zu dem Bild aus dem Marien-Offizium: Maria nimmt mit dem in zartes Rosa gekleideten Lieblingsjünger Johannes die Mitte ein; vor ihnen, nach außen verschoben, sitzen zwei bärtige Apostel, der linke in leuchtendem Zinnober, der rechte in Hellgrün. Maria verdrängt dabei Petrus; und bei näherem Zusehen wird deutlich: So emphatisch überzeugend die Gruppierung unter der Taube auch wirkt, die aus dem Himmelblau rote Strahlen aussendet, so wenig konsequent sind die räumlichen Gegebenheiten doch begriffen: Der Maler wollte vielleicht einen inneren Kreis von Aposteln in einem halbrunden Gestühl plazieren, kapitulierte dann aber vor der Notwendigkeit, möglichst viele Gestalten zu zeigen. Die sorgten dann für ein Gedränge, das den Körpern Vorrang vor den Möbeln gab.
Zum französischen Gebet Doulce dame de misericorde (fol. 129) steht die Miniatur der Jungfrau Maria mit Kind und Engel. Die Gottesmutter sitzt auf einem schlichten Holzstuhl vor einem dreifarbigen Rauten-Mosaikgrund in Rot, Blau und Gold. Ihre Füße ruhen auf einem roten Kissen. Der Engel ist von links an die Mutter-Kind-Gruppe herangetreten und reicht dem lebhaften Kleinen ein Körbchen, das das Kind mit beiden Händen ergreift. Ein dunkelblaues, weißgesäumtes welliges Wolkenband überwölbt die idyllische Szene.
fol. 135v: Wie ein Felsenmaul öffnet sich das Versatzstück von Landschaft, durch das man die weiß gekräuselten Wellen wahrnimmt, in denen der Riese Christophorus zur Eröffnung der nicht an ihn, sondern an Gott gerichteten Fünf Klagen erscheint. Deren Anrufung Doulx dieu, doulx pere, sainte trinité un dieu geht dann sogar noch über Christus hinaus und erfasst die gesamte Trinität! Auf einen Stock gestützt, der groß ist wie ein Baumstamm, blickt der Heilige auf zum Christusknaben, der die Rechte zum Segen erhebt und sich dabei an die Betrachter des Bildes wendet. Auf Höhe des angewinkelten Knies verläuft das hintere Ufer, weitgehend wie ein Horizont bildparallel, dann aber doch in nach rechts hinten aufsteigender Flucht. Dort steht vor dem gemusterten Grund ein einzelnes Bäumchen in harmonischer Abstimmung zu Christophorus und Christus.
fol. 139v: Zum Gebet des Hieronymus hat sich der Heilige im vollen Kardinalsornat von seinem Stuhl erhoben, um niederzuknien, den breitkrempigen Hut noch auf dem Haupt. Gott in der Gestalt des Vaters erscheint ihm in einer Himmelsvision über den Etagen seines Schreib- und Bibliotheksschranks. Dazwischen aber drängt sich der Löwe, der seinerseits jene Pfote erhebt, aus der ihm Hieronymus den Dorn entfernt hat. Für die Betrachter des Bildes bedeutet diese Erscheinung möglicherweise, daß man sich wie das Tier fühlen soll, das den Heiligen um Hilfe anfleht, während er sich zu Gott wendet und von diesem gestärkt wird.
fol. 140[141r]: Statt des Totendiensts in der Kirche eröffnet die Toten-Vesper mit einem Bild der Auferweckung des Lazarus. Dieses gegen 1500 in Stundenbüchern weit verbreitete Motiv ist um 1400 extrem selten für die Bebilderung des Toten-Offiziums benutzt worden; die Buchmalerei nimmt das Responsorium nach der ersten Lesung der Matutin (hier fol. 157) auf, in dem man sich an Christus wendet „Qui lazarum resuscitasti“. Vor Mustergrund auf der Wiese eines nicht weiter umzäunten Gebiets, also nicht wirklich auf einem Friedhof, steht das Grab des Lazarus, schräg nach hinten ansteigend. Zu ihm drängen von links zwei heilige Frauen, ein weiterer Heiliger, von dem nur der Nimbus zu sehen ist, und ein Bärtiger, der verwundert die Hände hebt, weil Christus auf das Drängen von Magdalena und Martha deren Bruder Lazarus aus dem Grab ruft. Der mit Ausnahme des Gesichts ganz in Leichentücher Gehüllte richtet sich auf und reicht dem Erlöser die umhüllte Hand. Das in der Kunst sonst so beliebte Motiv, daß sich ein Zeuge angesichts des Leichengeruchs die Nase zuhält, fehlt hier. Noch eigenartiger sind die beiden Frauen vorn. Eigentlich wird die Auferweckung des Lazarus auf Magdalenas Drängen möglich; sie scheint hier aber mit der zum Rand gedrängten Blonden mit offenem Haar gemeint zu sein, während sich eine Frau in den Vordergrund schiebt, die, wenn sie nicht die Muttergottes selbst sein soll, trotz ihres Heiligenscheins vielleicht auch die Dame vertreten soll, die einmal die Handschrift in Auftrag gab.
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Zum Maler
Alle Miniaturen gehören zum Boucicaut-Stil, wie er schon von Durrieu treffend umrissen und Panofsky gepriesen wurde; bei Millard Meiss 1968 wäre die Bebilderung als Boucicaut Workshop bezeichnet worden. Seit Gabriele Bartz, mit Zustimmung von François Avril, aus der Stilgruppe einen zweiten Meister herausdestillieren konnte, den sie nach Mazarine 469 nannte, haben sich die Verhältnisse geändert: Statt weniger exquisiter Werke, die Meiss dem Meister zugestehen wollte, wobei die für ihn zweitbeste Arbeit, eben das Mazarine-Stundenbuch, dann doch der Werkstatt gegeben wurde, gibt man nun den beiden Haupthänden, dem Boucicaut-Meister und dem Mazarine-Meister große Anteile des Erhaltenen. So liegen hier Miniaturen vom Mazarine-Meister selbst und nicht Arbeiten der Werkstatt vor.
Bei aller Ähnlichkeit setzt sich der Mazarine-Meister vom Boucicaut-Meister so deutlich ab, daß die mit Pariser Buchmalerei befasste Forschung - mit Ausnahme von Albert Châtelet, der die Trennung nicht mit vollzieht - die Unterscheidung der beiden treffsicher beherrscht. Den Gegensatz der nur äußerst selten in einem Codex zusammen tätigen Künstler machen vor allem Eigenarten von Komposition und Kolorit aus; hinzu kommt eine sehr viel stärkere Neigung des Mazarine-Meisters, seine Miniaturen durch dekorative Elemente zu beleben, vor allem Akanthusgründe in Gold und Silber, die er vermutlich im ersten Jahrzehnt nach 1400 vom Egerton-Meister übernommen hat. Das Zeitverhältnis der beiden Künstler ist schwer zu bestimmen; die Nüchternheit und der Rationalismus des Boucicaut-Meisters lassen sein Werk aber tendenziell später ansetzen.
Die Eigenarten des Mazarine-Malers sprechen hier aus jeder Miniatur; so fügt sich das prächtige Bild Jesu zu den Bußpsalmen vorzüglich in die Gegensätze, die Gabriele Bartz für verwandte Miniaturen vorgenommen hat (Bartz 1999, Abb. 35-37). Nun war vor allem Millard Meiss von einer an italienischer Kunst des Trecento geschulten Händescheidung besessen, die ohne nachzufragen, ob es überhaupt so große Werkstätten gab, auf möglichst kleinteilige Differentierung zielte. Wer eine solche, vermutlich ahistorische Sicht teilt, findet Ansätze beispielsweise bei den beiden Miniaturen des Stalls von Bethlehem. Die Unterschiede von Weihnachtsbild und Königsanbetung interpretieren wir so: Die Königsanbetung wirkt durch solche strukturellen Details wie das Pfostenbett und durch den hellen Himmel entschieden moderner. Wie bei der Heimsuchung wirkt die Farbe dünn aufgetragen, lichter und leichter als bei den beiden Miniaturen zur Weihnacht. Damit stößt man hier auf einen Umbruch von den Anfängen des Mazarine-Meisters zu einer neueren Art von Malerei, die vermutlich für die Jahre gegen 1410 charakteristisch ist. Dieser Umstand rückt unser Stundenbuch der Jaquette de la Barre im Zusammenspiel mit den anderen hier vorgestellten Werken hinter die vorgestellten Werke des Bedford-Meisters. Das heißt aber nicht, daß der Mazarine-Meister mit seinem Schaffen auf den jungen Bedford-Meister folgte. Eher wird man davon ausgehen können, daß sich die beiden gegenseitig beeinflußt haben, mit einem gewissen Vorsprung des Mazarine-Meisters, der wohl auch älter als der Boucicaut-Meister war.
Lateinische und französische Handschrift, auf Pergament, in schwarzer Textura, mit roten Rubriken in französischer Sprache.
In der in einzelnen Punkten nicht immer mit dem Ortsbrauch übereinstimmenden Textfolge werden die gewohnten Pariser Bestandteile durch Zusätze ergänzt, die offenbar für die Beterin bestimmt waren, der das Buch zugedacht war. Übereinstimmungen bestehen zu dem ebenfalls Pariser Stundenbuch ehemals bei Weiller.
- fol. 1: Kalender, in französischer Sprache, jeder Tag besetzt, einfache Tage schwarz, Festeintragungen in zwei Arten von Rot, die in den anderen Spalten getrennt eingesetzt sind; die goldene Zahl in leuchtendem Zinnober, die Sonntagsbuchstaben A in Gold auf roten und blauen Flächen, die übrigen Sonntagsbuchstaben schwarz, die römischen Tageszählung in blassem Rot. Die Heiligenauswahl wohl pariserisch, mit der Schreibweise La tiphaine für den 6.1. und Festen von Genovefa (3.1.), Gervasius (19. 6.), Ludwig (25.8.), Remigius (1.10.) und Dionysius (9.10.).
- fol. 13: Gebetsfolge an Christus gerichtet, mit kurzer Litanei (Anfang fehlt), daran ohne Zäsur anschließend die Perikopen: Johannes (fol. 15), Lukas (fol. 16v), Matthäus (fol. 17v), Markus (fol. 19), das Ganze mit dem sonst nach Johannes eingesetzten Schlusstext aus Vers, Responsorium und dem Gebet Protector in te sperantium in der Art eines Suffragiums am Schluss der gesamten Textgruppe zusammengefasst (fol. 20).
- fol. 20v: Mariengebete: O intemerata (fol. 20v) für eine Frau redigiert (michi peccatrici: fol. 22), Obsecro (fol. 24) vielleicht aus Unaufmerksamkeit zu Beginn noch für einen Mann redigiert, dann für eine Frau eingerichtet (facturus ... und dann famule tue: fol. 26).
- fol. 28: Marien-Offizium für den Gebrauch von Paris: Matutin (Anfang fehlt vor fol. 28, mit drei vollständigen Nokturnen für die verschiedenen Wochentage), Laudes (fol. 53v; der Textanfang auf einem eingefügten Doppelblatt mit der Rubrik auf fol. 51v: Les laudes sensuivent apres les antienes qui sunt escriptes cy empres: Salve regina und Ave regina (fol. 52), Inviolata et integra auf fol. 52v; fol. 53, die Rectoseite des Bildes war zunächst leer; später hat man das Gebet Omnis virtus te decorat nachgetragen, Prim (fol. 65v), Terz (fol. 72), Sext (fol. 77), Non (fol. 81v), Vesper (fol. 86), Komplet (fol. 93v).
- fol. 99: Suffragium des Heiligen Geistes: Rex virginum amator castitatis.
- fol. 100: Mariengebet: Ave maria … martir cum martiribus.
- fol. 101: Bußpsalmen, mit Litanei (fol. 114), mit Pariser Heiligen: Gervasius und Prothasius, Dionysius, Eustachius, Mauricius, Leodegar, Marcellus, Hylarius, Germanus, Remigius, Fiacrius, Maurus, Antonius, Maturinus, Yvo, Genovefa, Radegundis, Petronilla.
- fol. 119: Horen: des Heiligen Kreuzes (Anfang fehlt vor fol. 119), des Heiligen Geistes (fol. 124).
- fol. 128[128v]: XV Joyes.
- fol. 135v: VII Requestes, in der Rubrik auf fol. 135 als Cinq Plaies, mithin als Fünf Hauptwunden des Gekreuzigten bezeichnet, obwohl es keine Fünfzahl in der Textgruppe gibt und der Text den VII Klagen des Herrn entspricht.
- fol. 139v: Suffragium des heiligen Hieronymus; in der Rubrik unter dem Text auf fol. 139 war noch der Kurzpsalter des heiligen Hieronymus angekündigt; schon im 15. Jahrhundert hat man die Zeilen unter dem Bild ausrasiert und ein Suffragium eingetragen, das mit dem seltenen Hymnus O Christicolarum lux dux vas abstinenciae, O scripturarum (Chevalier, Repertorium hymnologicum III, 1904: Nr. 30303) als Antiphon beginnt; dabei blieb der Anfangsbuchstabe V unverändert für das O beibehalten; fol. 139 wurde wie fol. 140 auf einem Falzstreifen aufgeklebt; fol. 140 trägt eine zweizeilige Flächen-Initiale mit sonst nicht zu findendem ausstrahlenden Dornblatt und keine Außenbordüre; fol. 140v nur mit einer Zeile besetzt.
- fol. 140: Toten-Offizium für den Gebrauch von Paris: Vesper (fol. 140), Matutin (fol. 148v), Laudes (fol. 175v).
- fol. 190[191r]: Herrengebete: Domine ihesu xpiste qui sacratissimam carnem (fol. 190[191v]), Ave verum corpus (fol. 190v[191v]), Deus qui manus tuas et pedes tuas (fol. 190v), Domine ihesu xpiste fili dei vivi concede michi indigne famule (also für Frau redigiert).
- Textende fol. 191v[192v].
- Ein nur unter ultraviolettem Licht lesbarer Eintrag, vielleicht bereits aus dem 15. Jahrhundert, im Textfeld von fol. 27v nennt Jaquette de la Barre, über die nichts bekannt ist. Das Buch ist in den Mariengebeten und in Schlusstext für eine Frau eingerichtet.
- Nachträglich mit Bordüren einer eventuell provenzalischen Hand (in Paris oder Avignon) versehen, die mit den Goldbuchstaben „un“ (eins oder eher noch: einer) offenbar auf einen unbekannten Besitzer und dessen Abwesenheit oder Ableben anspielt. Die gleiche Art von Ranken mit demselben Spiel ums Zahlwort „un“ findet sich in einem Stundenbuch, ehem. Weiller (Auktion Paris 1998, Nr. 78) für Pariser Gebrauch, das in Paris geschrieben, aber von einer provenzalischen Hand ausgemalt wurde.
- Zu Jaquette de la Barre: Die einzige einschlägige Pariser Provenienz ist hochinteressant: Familienmitglieder waren die berühmten Orgelbauer dieses Namens (Chabanceau de la Barre), die auf Frédéric Schambantz zurückgehen, den Orgelbauer des Duc de Berry, der zwischen 1401 und 1404 die Orgel von Notre Dame schuf! Es wäre also gut möglich, daß Jaquette de la Barre dieser Familie im 15. Jahrhundert angehörte, für deren Gründer unsere Handschrift um 1410 in Paris hergestellt worden wäre (vgl. DBF XVIII, 1994, Sp. 1299-1301). Der Umstand, daß wir die Eintragung von Jaquette an prominenter Stelle finden, zusammen genommen mit dem beharrlich wiederkehrenden „un“ und „va“ ließe darauf schließen, daß die Handschrift der Besitzerin zu einem Zeitpunkt in die Hände kam, in der sie entweder die Abwesenheit oder das Ableben des „Einen“, der „ging“, zu beklagen hatte.
- Später war das Manuskript im Besitz von Alexander Boswell (1707-1782), in East-Ayrshire, Schottland, gelangte von dort an dessen Sohn James Boswell (1740-1795), den bekannten Schriftsteller und Biographen von Samuel Johnson und später über die Familien-Tradition an James Boswell Talbot (1874-1948), den sechsten Baron Talbot of Malahide, in Malahide Castle bei Dublin; dessen Witwe, Lady Talbot, es 1976 an Sir John Galvin verkaufte, von dessen Nachfahren wir es erwarben.
- Ein noch völlig unbekanntes Stundenbuch eines der führenden Pariser Meister aus den Jahren gegen 1410, im Textgefüge ungewöhnlich, für eine Frau eingerichtet und nachträglich mit Bordüren einer vielleicht provenzalischen Hand versehen und mit dem schwer deutbaren Wort „un“ zuweilen im Wechsel mit „va“ beschriftet. Aus einer Zeit, die in quadratischen Miniaturen zwar den Stall von Bethlehem schon räumlich darstellte, aber sonst noch keine architektonisch gestalteten Interieurs forderte und bei Szenen in der Landschaft neben edlen Versuchen mit blauem Himmel immer noch die Karomuster mit Blattgold bevorzugte. Im erhaltenen Bestand brillant, zeigt das Manuskript über das übliche Bildprogramm hinaus drei ungewöhnliche Bilder, deren Ikonographie mit einem zweiten Pariser Stundenbuch, das ganz in provenzalischem Stil bemalt wurde, übereinstimmen: Gottes Herrlichkeit zu den Bußpsalmen, Auferweckung des Lazarus zur Toten-Vesper und Gebet des Hieronymus.
- Die Handschrift ist unveröffentlicht.