St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 390
Euw Anton von, Die St. Galler Buchkunst vom 8. bis zum Ende des 11. Jahrhunderts, Band I: Textband, St. Gallen 2008 (Monasterium Sancti Galli, Bd. 3), S. 499-502, Nr. 143.
Titre du manuscrit: Antiphonarium officii
Origine: St. Gallen
Période: um 990-1000
Catalogue number:
143
zusammen mit Cod. Sang. 391
Volume:
192 (194) und 264 pp.
Format: 22 x 16,5 cm
Composition des cahiers:
Lagen 16 (p. 1-6 unvollständig), (22, p. 7-10) (Bifolium 12./13. Jh.), 28 (p. 11-26), 38-58 (p. 27-74, am Ende der Lagen oben in der Mitte signiert ·III·-·V·), 68-78 (p. 75-106), 88-118 (p. 107-186, am Ende der Lagen oben in der Mitte signiert ·VIII·-·XII·), 124-1 (p. 187-192, Falz von p. 193/194 noch zu sehen)
Mise en page:
Schriftspiegel 15,7 x 13,5 cm, einspaltig zu 17 Zeilen, Bildspiegel 18,5 x 15,5 cm
Type d'écritures et copistes:
- geschrieben und illuminiert von Hartker
- karolingische Minuskel von einer Hand
Notation musicale: neumiert
Décoration:
Titel u. Lektionsdaten in Rustica mit Minium, ebenso die kapitalen u. unzialen Majuskeln A(ntiphona) u. R(esponsorium). Zum Advent u. zu Ostern Initialzierseiten in Minium mit Ligaturen, zu einigen Anfängen von Gesangsgruppen, Herren- u. Heiligenfesten Initialen in Minium, Dedikations-, Autoren- u. christologische Bilder in Purpur- u. Miniumfederzeichnung kontrastierend, teilweise lavierend, sowie Grün, teilweise ebenso, Pergamentaussparung.
Sommaire:
Inhalt u. Schmuck:
- p. 1-6 Antiphonenverzeichnis (fragmentarisch)
- p. 7-10 Antiphonen zum Advent u. zu Marienfesten (12./13. Jh.)
- p. 11 Dedikationsbild: S. GALLUS links thronend empfängt von HARTKERUS RECLUSUS das Buch, beide gekleidet in Tunika u. anianische Kukulle, im Rahmen Akanthus u. auf den Rahmenleisten in Uncialis die Verse: Auferat hunc librum nullus hinc omne per evum / Cum Gallo partem quis quis habere velit./ Istic perdurans liber hic consistat in evum / praemia patranti sint ut in arce poli
-
p. 12
Begleitverse zum gegenüber stehenden Gregorbild auf Papst Gregor den Großen
(590-604):
Hoc quoque Gregorius partes de more secutus
Instauravit opus auxit et in melius.
His vigili clerus mentem conamine subdat,
Ordinibus, pascens hoc sua corda favo,
Quem pia sollicitis solertia nisibus omni
Scripture campo legit et explicuit.
Carmina diversas sunt hec celebranda per horas,
Sollicitam rectis mentem adhibete sonis.
Discite verborum legales pergere calles
Dulciaque egregiis iungite dicta modis,
Verborum ne cura sonos, ne cura sonorum
Verborum normas nullificare queat.
Quicquid honore Dei studiis celebratur honestis,
Hoc summis iungit mitia corda choris.
(MGH Poet.lat. IV, 1071-1072; Schaller/Könsgen, Nr. 7080) - p. 13 Gregorbild mit Akanthusrahmen in Minium, vor einem offenen Tor mit gerafftem Vorhang u. zwei in der Mitte an einen Turm grenzenden, mit Fensterreihen verzierten basilikalen Gebäudeteilen, die wohl den Lateran darstellen sollen, thront der Papst frontal in Albe, Stola, Dalmatica, Casula sowie mit Manipel u. Pallium gekleidet, von der Taube des Hl. Geistes inspiriert, u. diktiert seinem Notarius Petrus Diaconus die Neumen (?) oder die Antiphonen, die dieser in Geheimschrift mit dem Bronzegriffel in eine auf dem Schreibpult liegende große Wachstafel eingraviert, als Diakon in Albe u. Dalmatica gekleidet
- p. 14 Initialzierseite I(ncipiunt responsoria et antiphonae per circulum anni. Dom. I. De adventu Dni. ad. vesp.), nachfolgende Zeilen in Capitalis u. Uncialis gemischt
- p. 15 Initialzierseite mit Buchstabenbild R(esponsorium) A(spiciens), außerhalb u. innerhalb des A als Initiälchen die Buchstaben R u. (A)SPICIENS in drei Reihen, die Bänder des linken u. rechten Schaftes des A überkreuzen sich zweimal, aufwendiger Rankenschmuck mit an Fäden hängenden Lanzett-, Sichel- u. Dreiblättern sowie Sporangien, darunter das a longe in Capitalis
- p. 44 In nat. Dni. ad invitatorium X(pc natus est nobis venite adoremus)
- p. 45 H(odie nobis caelorum rex)
- p. 170 Dom. in palmis
- p. 178 In vigil. caenae Dni.
- p. 183 Abendmahlsbild: vor einem mit Säulen u. Giebeldach angedeuteten Haus sitzt Christus inmitten der Jünger (Mt 26,20-29), zwei zu seiner Rechten u. zwei zur Linken, über ihre Knie ist gewellt ein Tuch ausgebreitet. Die Köpfe der sieben anderen sind dahinter zu sehen. Jesus schaut zu Petrus, der zu ihm sagt: ich bin es doch nicht (der dich verraten wird). Mit seiner Rechten legt Jesus in die Hände des außen sitzenden Jüngers eine Hostie. Ihre Füße ruhen auf einem mit Arkaden verzierten Suppedaneum, das die ganze Bildbreite einnimmt, im Rahmen Akanthusranken
- p. 184 Antiphonae ad mandatum
- p. 186 Die Fußwaschung (Io 13,2-9): unter einer Doppelarkade mit aufgesetzten Dächern, durch die ein Vorhang gezogen ist, beugt sich Jesus «umgürtet mit einem Linnentuch» (Io 13,4) u. greift nach dem rechten nackten Fuß des rechts auf einem Podest sitzenden Petrus, um ihn in das am Boden stehende Wasserbecken zu tauchen. Petrus hatte sich geweigert u. fährt nun mit dem ausgestreckten Zeigefinger seiner Rechten an den Kopf, um zu sagen, «Herr, nicht nur die Füße, sondern auch die Hände und das Haupt» (Io 13,19), sieben Köpfe der Jünger hinter Petrus, im Rahmen Akanthusblattreihe
- p. 187-192 Antiphonenverzeichnis
- p. 193-194 nur noch der Falz des abgerissenen Blattes erhalten
Origine du manuscrit:
- Die Hs. wurde im 12./13. Jh. im Zuge der Ergänzungen in die Teile Sang. 390 (pars hiemalis) u. Sang. 391 (pars aestivalis) getrennt. Nach dem Dedikationsbild auf p. 11, in dem der Reclusus Hartkerus dem hl. Gallus das Buch überreicht, wurde Hartker traditionell als Schreiber u. Illuminator des Werkes betrachtet. Die Annales Sangallenses maiores in Sang. 915 (MVG 19, 1884, 296 u. 304) sowie der Liber benedictionum Ekkeharts IV. (um 980 - um 1060) berichten über ihn (cap. XLIV, 26-34: Ed. Egli MVG 1909, 226f. Abb. bei Chroust, I. Abt., II. Bd., Liefg. XVI, Taf. 6a). Hartker war Mönch in St. Gallen und bezog als Rekluse die verlassene kleine Zelle der Klausnerin Bertrada in St. Georgen (bei St. Gallen), in der er für das Kloster Bücher schrieb, er starb 1011. Möglicherweise fällt seine Mitarbeit am Sakramentar-Teil in Sang. 339 (Nr. 142) noch in die Zeit vor 980; das Graduale in Cod. 339 steht dagegen Sang. 390/391 so nahe, dass er es als Rekluse geschrieben, neumiert u. geschmückt haben könnte. Chroust datiert das Antiphonarium officii aufgrund seiner Übereinstimmung in der Schrift mit dem Breviarium missae (Teil III) in Sang. 339 in die Jahre 993-997 (vgl. MGH SS II, Tab. III, S. 11).
- Die Kunst Hartkers ist die logische Fortsetzung der in Handschriften wie der Wolfenbütteler Viten-Sammlung 17.5 Aug. 4° (Nr. 127) fassbaren spätkarolingischen St. Galler Buchkunst. In den so noch nicht dagewesenen u. einmaligen Buchstabenbildern des A(spiciens) p. 15 in Sang. 390 u. a(ngelus Domini) p. 34 in Sang. 391 zeichnet sich ein Höhepunkt der ottonischen St. Galler Buchkunst ab, der durch vollkommene Harmonie aller Elemente makellos erscheint. Ebenso strahlen die in purpurner u. miniumfarbiger Feder gezeichneten, mit Lavierungen auch in Grün verstärkten Bilder Ruhe, zugleich aber asketischen Verzicht aus. Dem entspricht die klassizistische Bildkomposition u. Linienführung, die, jede Dramatik vermeidend, den benachbarten Text abgeklärt zur Grundlage nimmt (vgl. Sang. 391, p. 26-27). Das gilt auch für das Gregorbild (Sang. 390, p. 13), das gleichsam aus den auf der gegenüberliegenden Seite geschriebenen Versen über Papst Gregor den Großen (590-604) entwächst. Hartker hält sich nicht an den in St. Gallen bekannten Text der Vita Gregorii des Johannes Diaconus Romanus (825-880), nach der der päpstliche Diakon die Inspiration Gregors bei der Deutung des Buches Ezechiel durch Lüften des Vorhangs belauschte, sondern setzt eine für das Gesamtwerk des Autors gültige Darstellung ins Bild, die gleichsam aus dem gegenüberliegenden Text erwächst. Vgl. Nr. 142.
Bibliographie:
- Scherrer, S. 133
- Chroust, I. Abt., II. Bd., Liefg. XVI, Taf. 5.
- Merton, S. 69-72, Taf. LXVII-LXX.
- Joachim Prochno, Das Schreiber- und Dedikationsbild in der deutschen Buchmalerei, Leipzig/Berlin, 1929, S. 21.
- Bruckner III, S. 47, 101, Taf. XLVIII.
- Ephrem Omlin, Hartker von St. Gallen, in: Zeitschrift für Schweizerische Kirchengeschichte 25. 1931, S. 226-233.
- Emil Schlumpf, Quellen zur Geschichte der Inklusen in der Stadt St. Gallen (MGV 41 [42]), St. Gallen 1953, S. 4f.
- Knoepfli, Kunstgeschichte I, S. 66-67
- Jacques Forger (Hrsg.), Antiphonaire de Hartker (Paléographie musicale II, 1), Bern ²1970.
- Anton von Euw, Gregor der Große (um 540-604). Autor und Werk in der buchkünstlerischen Überlieferung des ersten Jahrtausends, in: Imprimatur. Ein Jahrbuch für Bücherfreunde N.F. XI, 1984, S. 19-41, bes. S. 36 Abb. 13.
- Hoffmann, Buchkunst, S. 89.
- Godehard Joppich (Hrsg.), Die Handschriften St. Gallen Stiftsbibliothek 390/391: Antiphonarium officii Hartkeri (Monumenta Palaeographica Gregoriana 4), Münsterschwarzach o. J.
- Peter Ochsenbein, Karl Schmuki, St. Galler Heilige (Ausstellungskatalog Stiftsbibliothek), St. Gallen 1988, S. 55f.
- Duft, Die Abtei St. Gallen I, S. 116f., Abb. 12, 13, S. 249f.
- CMD-CH III, Nr. 751-752, S. 293, Abb. 761.
- Karl Schmuki, in: Cimelia Sangallensia, Nr. 54.
- Arlt, Liturgischer Gesang, in: Kloster St. Gallen, S. 142, 144.
- von Euw, in: Kloster St. Gallen, S. 194, Abb. 93.
- Johannes Duft, «Kostbar ist der Tod». Tröstliche Geschichten vom Sterben im Mittelalter, St. Gallen 2002, Abb. S. 143-146.
- Berschin, Eremus und Insula (2005), S. 21, 82, 84, 103, 168, Abb. 13.